laut.de-Kritik

TikTok-Star aus Influencer-Villa macht jetzt Pop-Punk.

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Boybands und Pop-Punk hätte man die längste Zeit als die beiden Geschlechter von 2000er-Teenie-Scheiße bezeichnen können. Aber die Jahre vergingen, wir hörten irgendwann auf, alles all zu rigide zu gendern und eigentlich hatten genau so viele Mädchen peinliche Linkin Park- und Blink-Phasen wie heute Typen in der Dorfdisco auf die Backstreet Boys abgehen. Dass einen halben Nostalgie-Zyklus und ein Emo-Trap-Hype später beides ein und dieselbe Soße sein könnte, hätte man trotzdem nicht erwartet.

Lil Peep bis Juice WRLD, 5 Seconds Of Summer bis Blackbear – jeder emotionale Sadboy kokettiert heute mit Pop-Hooks, Skaterboy-Gitarren und könnte augenblicklich für Hot Topic modeln. Aber von all den Prettyboy gone Sadboy-Sensationen gibt es wohl keine, die sich so kalkuliert und zynisch anfühlt wie JXDN: sieben Millionen Follower auf TikTok, zum Musikmachen 2018 von einem Juice WRLD-Konzert inspiriert, sofort bei Travis Barker unter Vertrag. Seine erste EP "So What!" klingt so kalkuliert, als hätte man ihn per EMP-Ouija-Brett aus einem Stapel Billy Talent-Postern emporsteigen lassen.

Das Single-Business läuft bisher gut für den jungen Influencer: "Comatoze" und "So What!" zählen beide etwa zehn Millionen Views, "Angels & Demons" sogar 30 Millionen. Das Projekt JXDN bewegt sich offensichtlich am Puls der Zeit, er hat eine Zielgruppe aufgespürt, über TikTok versammelt und bedient nun deren Nostalgie-Gelüste auf die plumpest mögliche Art.

"So What" klingt genau, wie man sich Pop-Punk vorstellt. Würde man auf YouTube Pop-Punk-Type-Beat eingeben, bekäme man mit eiserner Wahrscheinlichkeit JXDN-Musik vorgeschlagen. Bis zum letzten Accessoire reproduziert der Kerl einen Sound zwischen Blink 182 und Sum 41, höchstens zwischendurch mal mit einem verhaltenen Trap-Beat in die Jetztzeit verfrachtet. Demnach wäre "So What!" musikalisch höchstens uninteressant, denn warum soll man sich eine mediokere Coverband anhören, wenn die echten 2000er-Helden drei Klicks – oder mit dem echten Emo-Trap eine kontemporäre Weiterentwicklung zwei Klicks entfernt weilt?

Es ist nicht nur die Innovationslosigkeit: Es ist die Authentizität. Einerseits wäre es wohl die einfachste Sache der Welt, dem TikTok-Hübschling aus der LA-Influencer-Villa abzusprechen, genuin traurig zu sein. Aber es wäre ein Arsch-Move, Leuten ihre Gefühle nicht zuzugestehen – auch Leute in idyllischsten Lebenslagen können psychische Probleme bekommen. Es ist die gesamte Aufmachung dieses Produkts, die es so wahnsinnig schwer macht, die bedrückenden Inhalte und Interviews von JXDN abzukaufen.

Die vier Nummern auf "So What!" beschäftigen sich viel mehr mit dem Überwinden, mit dem Ausbruch aus der Negativität. Die Negativität wirkt immerzu wie ein implizierter Subtext, wie etwas, das kulturell sowieso so omnipräsent ist, dass man sie gar nicht aussprechen muss. Zwar sagt JXDN im Chorus des Titeltracks "I'm so over life, das hängt aber so ohne Kontext und Gravitas in der Luft, dass die einzige Zeile, die letzten Endes hängenbleibt, die Line "I'm so down tonight" lautet. Sadness, ja, klar, irgendwie, äh, - Party, yeah! Man erwartet fast, dass sich in der nächsten Drehung im Musikvideo Logic aus einem der Schließfächer springt, um einmal "Who can relate? Woo!" zu blöken und wieder zu verschwinden.

Noch schlimmer ist "Angels & Demons", die Nummer, bei der der Juice WRLD- und Lil Peep-Einfluss am meisten durchkommt. Auch hier wird die Existenz von Depression vage vorausgesetzt, aber statt Weltschmerz und Traurigkeit musikalisch, atmosphärisch oder inhaltlich auszuschmücken, ist der Song viel mehr mit Teenie-Rebellen-Phrasen wie "Fuck 'em like a rockstar / Ridin in a cop car/" beschäftigt.

Allerhöchstens "Comatose" versucht, den Gefühlen einen gewissen Rückhalt zu geben. Da berichtet JXDN von einer toxischen Beziehung, aus der er ausbricht. Aber auch hier klingt alles so absurd jovial, dass man ihn nicht ganz ernst nimmt. Das bleibt das schlussendliche Problem an "So What!": Der Kerl fühlt sich an, als würde er Fasching als Punk gehen. Drum schaffte er sich auch all die Verkleidungen an: Er hat den lachhaften edgy Namen, er hat die Frise und er hat die Depressionen. Letztere scheinen wirklich nur ein weiteres Puzzleteil für die Vollendung des Looks zu sein, denn über seine Gefühle erfahren wir absolut nichts.

JXDNs erstes musikalisches Outing fühlt sich sorglos und happy an, musikalisch derivative 'Fäuste in die Luft-hey'-Songs, in die bestenfalls jeder seine eigenen Verstimmungen des Tages projizieren kann. Zu erzählen oder zu fühlen gibt es fast nichts. "So What!" ist die verschwommene Erinnerung an ein Genre, das nicht nur damals besser war, sondern das jetzt gerade besser wiederbelebt wird. Nostalgie wurde selten offensiver zu Geld gemacht und Depression als Thema selten seichter bearbeitet.

Trackliste

  1. 1. So What!
  2. 2. Angels & Demons
  3. 3. Angels & Demons - Acoustic
  4. 4. Comatose

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