laut.de-Kritik
Verschollene Session aus der Glanzzeit des Jazzgiganten.
Review von Dominik KautzDass Impulse! Records 2018 mit "Both Directions At Once: The Lost Album" verloren geglaubte und nur zufällig wiederentdeckte Masterbänder einer 1963er Session von John Coltranes Classic Quartet mit Elvis Jones (Drums), Jimmy Garrison (Bass) und McCoy Tyner (Piano) im für die Jazzwelt legendären Van Gelder Studio herausbrachte, war nichts weniger als eine Sensation. Nur wenige Tage nach dem 93. Geburtstag des Meisters und 52 Jahre nach seinem Tod erscheint jetzt mit "Blue World" ein weiterer spektakulärer Archivfund einer auf Tonträgern bisher komplett unveröffentlichten Session. Aufgespürt wurde der Fund aus dem Jahr 1964 im Rahmen nachfolgender Recherchen zu "Both Directions At Once".
1964 markiert eines der wichtigsten Jahre in Tranes Karriere. An zwei Tagen im April und Juni nimmt er "Crescent" auf. Im Dezember folgen an nur einem Tag die Recordings zu seinem Meisterwerk und absoluten Meilenstein des Jazz "A Love Supreme". Zwischen diesen beiden Werken kontaktiert ihn der experimentelle kanadische Filmemacher und glühende Coltrane-Verehrer Gilles Groulx, der zu dieser Zeit für das National Film Board (NFB) in Kanada arbeitet. Sein Ziel: Trane für den Soundtrack zu seinem stark von improvisatorischen Elementen geprägten Direct Cinema- und Nouvelle-Vague-Klassiker "Le Chat Dans Le Sac" zu gewinnen, einem von politischen Untertönen geprägten Drama über den Niedergang einer jungen Liebesbeziehung in Montreal vor dem Hintergrund der Stillen Revolution in Quebec. Den Kontakt stellt Groulx über eine persönliche Verbindung zu Coltrane-Bassist Jimmy Garrison her. Wider Erwarten stimmt der als schwierig geltende Saxophonist zu. Es bleibt der einzige Soundtrack, den Coltrane im Verlauf seiner Karriere einspielt.
Am 24. Juni begibt sich Coltrane ohne Wissen von Impulse! und ohne vorab Ausschnitte des Filmes gesehen zu haben, gemeinsam mit seinem Classic Quartet für die Aufnahmen zu "Blue World" nach New Jersey in das Studio von Rudy Van Gelder. Groulx, der Coltrane zuvor eine Liste mit für den Film gewünschten Neueinspielungen bereits bekannter Titel gab, ist ebenfalls anwesend. Nach Beendigung der Aufnahmen nimmt Groulx das in Mono aufgenommene Masterband mit nach Kanada, verwendet aber letztlich nur knappe 10 der 37 aufgenommenen Minuten für seinen Film. Das in keinen Protokollen vermerkte Tape verschwindet anschließend in den Untiefen des NFB-Archivs. "Le Chat Dans Le Sac" selbst und damit auch Coltranes Session geraten jahrzehntelang in Vergessenheit (Interessierte können den Film hier abrufen).
Die Ballade "Naima", die Trane 1959 für seine erste Ehefrau Juanita Naima Grubbs schrieb und die erstmals 1960 auf "Giant Steps" erscheint, eröffnet das Album. Im Film fungiert das langsame und sehr getragene Stück als musikalische Ouvertüre und untermalt mit seinen viereinhalb Minuten Spieldauer die einleitenden Szenen des Dramas, in denen die Protagonisten ihren Weltschmerz beklagen. Erst die enorme Wirkung von Coltranes über einem Orgelton des Klaviers einsetzendem, numinosem Spiel verleiht sowohl dem cineastischen Prolog als auch den Darstellern eine emotionale und melancholische Dimension, die einen sofort in ihren Bann zieht und die auf anderem Wege so nicht erreichbar gewesen wäre.
Im direkten Vergleich mit der Erstveröffentlichung hat diese Version von "Naima" nochmals an Tiefe hinzugewonnen und zeigt die große Klasse und das ätherische Genius des Jazzgiganten. Auch Pianist McCoy Tyner kommt hier mit einem Solo eindrucksvoll zu Wort und beweist, dass er mit seinem Bandleader in Sachen Musikalität auf einer Ebene steht. Das gilt auch für den zweiten Take des Stückes, der das Album beschließt.
"Village Blues", ein bekannter Klassiker aus Coltranes 1961 erschienener Platte "Coltrane Jazz", findet sich gleich in drei Takes auf dem Album. Im Film erklingt der Song erstmals in einer auf den Prolog folgenden, sinnlichen Liebesszene. Es passt nur zu gut, dass Coltrane und seine Mitstreiter sich hier abermals in bester Spiellaune zeigen. Gemeinsam erzeugt das Quartett hier, vor allem angeleitet durch die beschwingt schwebende Rhythmusfraktion um Drummer Jones und Bassist Garrison, eine fokussierte, spannungsgeladene Intensität von fast schon außerweltlicher Schönheit.
Die an seinen Saxophon spielenden Jazz-Zeitgenossen Sonny Rollins gerichtete Hommage "Like Sonny" befindet sich ursprünglich ebenfalls auf "Coltrane Jazz". Im Vergleich zum Original ist die aktuell vorliegende Fassung jedoch fast um die Hälfte kürzer, büßt aber, getragen von Tranes kreisenden und immer variierten Melodiebögen, nichts von ihrer bestechenden Kraft ein. Den Klimax von "Like Sonny" jedoch bildet Tyners virtuoses Klaviersolo, bei dem seine Finger nur so über die Tasten zu hüpfen scheinen.
Das erstmals 1958 auf "John Coltrane With The Red Garland Trio" erschienene "Traneing In" ist der älteste Track in dieser Sammlung von Neuaufnahmen. Das Stück beginnt mit einem Basssolo von Jimmy Garrison. Was Garrison hier auf das Griffbrett seines Kontrabasses legt, gehört zu den beeindruckensten Soli in seiner Zeit als Mitglied des Quartetts! Fast drei Minuten dauert es, bis Jones und Tyner einsetzen, wobei letzterer Garrison mit einem ebenfalls kraftvollen Solo ablöst. Erst in den letzten Minuten spielt Coltrane mit einem überaus furiosen Einsatz selbst mit. In "Traneing In" zieht die Band alle Register und zelebriert wirkmächtig den Blues.
Aus musikhistorischer Sicht stellt der erst zu Ende des Films auftauchende Titeltrack "Blue World" das einzig "neue" Lied des Soundtracks dar, lehnt sich aber an die harmonische Struktur von Harold Arlens "Out Of This World" an, das Coltrane bereits zwei Jahre zuvor für sein Album "Coltrane" aufnahm. Wohl aus Gründen des Urheberrechts spielt er das Stück 1964 mit neuer Melodie und moderaterem Tempo als reduzierte Kontrafaktur – ein im Jazz durchaus gebräuchlicher opus moderandi. Tranes in jeder Hinsicht hypnotisch phrasiertes Solo in "Blue World" nimmt an einigen Stellen bereits deutlich seine nur fünf Monate später mit "A Love Supreme" vollzogene kontemplative Wende vorweg.
John Coltranes "Blue World" funktioniert nicht nur als Soundtrack zu Gilles Groulx' "Le Chat Dans Le Sac" außergewöhnlich gut. Auch losgelöst vom Film entfalten die jetzt erstmals veröffentlichten Stücke ihre ganze Magie. Das liegt nicht zuletzt an der herausragenden Tonqualität dieses Dokumentes, die jedes Instrument in all seinen Feinheiten greifbar macht.
Coltrane, der im Studio normal immer nur neue Stücke auf Band konserviert, wirft mit diesem für ihn ungewöhnlichen Album voller Neueinspielungen älterer Stücke einen Blick zurück. Getreu seiner Aussage "es gibt niemals ein Ende ... es gibt immer neue Klänge auszumalen und neue Gefühle zu entdecken" dient dieses Release als wichtiges Zeugnis der spirituellen und transzendentalen Entwicklung, die Coltrane gemeinsam mit seinem Classic Quartet 1964 zwischen "Crescent" und "A Love Supreme" durchschreitet. Das macht "Blue World" zwar nicht zu einem neuen Meisterwerk, aber zu einem Pflichtkauf für alle Jazz-Fans und solche, die sich einen Einblick in Coltranes Werk verschaffen wollen.
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