laut.de-Kritik
Macht Platz für den OBS!
Review von Franz MauererDie Bedeutung der Lokomotive für den US-amerikanischen Geist lässt sich als Deutscher nur schwer nachempfinden. War Hauptergebnis unserer Lokomotisierung der Transport von Militärgütern an die Fronten des 1. Weltkriegs, ist die Lokomotive dort aller Strapazen (und Ausbeutung) beim Schienenbau zum Trotz ein Symbol für das Manifest Destiny und das Vorstoßen ins offene, weite Land und damit letztlich der Nationalstaatswerdung. Der Orange Blossom Special verband als Luxuszug im beginnenden 20. Jahrhundert aber nicht etwa den weiten Westen mit der Ostküste, sondern New York mit Miami. Man darf nicht unterschätzen, wie weit Florida damals ab vom Schuss war, gleichwohl erfüllte der Zug wie der Midnight Special und der Chattanooga Choo Choo aber weniger Frontier-Zweck, sondern stand als Gipfel der Ingenieurskunst stellvertretend für die Züge, die das Land aus US-Regierungssicht besiedelbar machten. Der offensichtliche Kontrast zu den US-indianischen Interessen ist Cash nicht etwa unbekannt, sein Oeuvre zeugte schon damals von zahlreichen Referenzen auf die Verletzungen der First Nations. Er hält den Widerspruch aber aus, so stellvertretend steht Cash halt für die große Nation über dem Teich, und das auch auf seinem 21. Album: "Orange Blossom Special".
"OBS" ist ein richtiges, Westerngeist atmendes Country-Album von Cash. Wenig Folk, kein Rock, kein Blues, keine Spielereien links und rechts, von wenig Gospel abgesehen. Wobei sich Spielereien natürlich viel zu abfällig anhört für einen Mann, der Meilensteine schuf wie Wüsten Dornbüsche.
Trotzdem tut es gut, ein recht homogenes, durchgehendes Country-Album vom Meister serviert zu bekommen, bei dem auch wirklich gar nichts den Sound bricht, der Bluegrass aber auch nicht mehr durchscheint. Nach "Orange Blossom Special" stampft man in den Salon statt in die Küche und die Milch verwandelt sich in billigen Whiskey. Und man versteht dank OBS, was Rubin sich dachte, als er den sauber abgehangenen Späte-80er-Kitsch-Cowboy für die Generation X von einer früheren Legende zu einer ganz aktuellen machte. Wohlgemerkt lagen bis dahin noch einige Jahrzehnte, Schnapsflaschen, Schaffensphasen und Meilensteine im Weg, insofern dient dieses Album also auch dafür zu verstehen, dass der alte Polierer Rubin genau das tat: freisetzen, herauskitzeln, wiedererwecken, nicht neu schaffen.
Nur drei der zwölf Songs stammen auf "Orange Blossom Special" von Cash selbst. Die Songs waren nach damaligem Empfinden gar nicht so unbekannt; der Titeltrack von Ervin T. Rouse war ebenso wie "The Long Black Veil" von Danny Dill und Marijohn Wilkin ein Standard des Genres. Nur haucht Cash ihnen ein Leben ein, das sie völlig verändert, ihre Seele und ihren Kern herausschält, und sie so erst ihrem eigentlichen Zweck zuführen zu scheint. Cashs Interpretation von "Long Black Veil" ist zurecht seit vielen Jahren nicht totzukriegen, er suhlt sich geradezu in der Selbstgeißelung aus Schuld und Sühne, und bei der langgezogenen Wehklage der Background-Sängerin sträuben sich die Nackenhaare. Bekannt ist die Performance 1969 mit Joni Mitchell, auf diesem Album zeigt June Carter Cash einen Einblick in ihre unterschätzte und zu oft auf ihr makelloses Handwerk reduzierte Gesangskunst. June tritt so richtig gescheit auf im Horton/Franks-Stück "When It's Springtime In Alaska (It's Forty Below)", das erste Duett der beiden damals noch unverheirateten Liebesvögel. Dieses Lied war bei Veröffentlichung von OBS kaum sechs Jahre alt; man kann die Faszination von Cash aber absolut nachvollziehen. Aus dem auch nur vordergründig leicht blödeligen Country-Pop des Originals, das seine Fallhöhe aus der Lockerheit der Backgroundsängerinnen und dem Tod des Erzählers zieht, machen er und June eine durchgehend schaurige Angelegenheit, die einen nur noch fliehen lassen will aus dem zugefrorenen Fairbanks.
Der Titeltrack atmet anderen Geist, den der Harmonika von Charlie McCoy, alles drängt unbedingt nach vorne, wie auf Schienen eben. Für Cash ungewöhnlich ist der Track fast schon fröhlich, selbst das "do-die-do-die", mit dem JR seinen unbedingten Freiheitswillen überspitzt (und vielleicht auf eine damals wohl geläufige Masturbationsgeschichte, in der ein Vater seinem Sohn das Solospiel verbieten will, anspielt). "It Ain't Me" beginnt das Trio von Dylan-Songs, was zur damaligen Zeit noch nicht der Volkssport späterer Zeiten war, im Gegenteil ein Statement für einen zwar wahnsinnig erfolgreichen, aber in der engstirnigen Folkszene umstrittenen Künstler. Aus "It Ain't Me" macht Cash eine lebendigere, aber nicht weniger brüske Ablehnung, die vor allem aus der Hochmütigkeit in den Strophen ihre Faszination zieht. Wieder assistiert June mehr als nur dekorativ. Der Kontrast zwischen Junes Gefühl und Cashs nicht nur harter, sondern spöttischer Ablehnung macht diese Version zu einer der allerbesten dieses Songs.
Damit war es das aber nicht mit Herrn Zimmerman, es kommen noch "Don't Think Twice, It's All Right" und "Mama, You Been On My Mind", das von Dylan erst 1991 erschien (aber schon 1964 live gespielt wurde), da es den Cut bei "Another Side Of Bob Dylan" nicht schaffte. "Twice" ist ein im Fundament so ausgesprochen exzellenter Song, dass ein Cover ein Stück weit dankbar ist. Cash belässt es bei einer simplen Country-Adaption, die alles richtig macht, weithin bis heute beliebt bleibt und trotz der Trauer und Scham, die Johnnys Stimme bei "I once loved a woman / A child I'm told" ausdrückt, letztlich der schwächste Song des quasi fehlerfreien Albums bleibt. Die Welt wäre ärmer ohne Cashs Interpretation dieses Songs, man wird das Gefühl aber nicht los, dass mehr zu holen gewesen wäre. Das gilt für "Mama" nicht: Die Wehklage trifft bis tief ins Mark und wirkt genau so völlig richtig, man kann sich kaum vorstellen, dass sie nicht von Cash selbst stammt. Und wer einen der besten Harmonika-Spieler aller Zeiten, den bereits erwähnten McCoy, und den genialen Boots Randolph am Saxofon kurz sogar gleichzeitig hören will, der kommt um den Song nicht herum. Sie prägen den Song gemeinsam mit Cash und geben ihm ein einzigartiges Feel.
"The Wall" ist einer der ersten Einträge in den langen Reigen von Cashschen Gefängnissongs und ein Cover des legendären Harlan Howard. Der Arkansawyer bannt die Ausweglosig- und Hoffnungslosigkeit des Gefangenen durch seinen sonoren Gesang auf Scheibe; aus guten Gründen wurde der Song Teil des Live-Kanons. Von manchen als langweilig verschrien, ist "The Wall" auch weniger Unterhaltung als (große) Kunst. "You Wild Colorado" ist der erste von JR geschriebene Track, und auch dieser wurde über die Jahre gerne negativ rezipiert und auch dieser völlig zu Unrecht. Wie auf dem gesamten Album ist Cashs Stimme dominant, aber genau die Zurückhaltung ist es, die Luther Perkins Gitarrenspiel auf diesem Album auszeichnet und Platz macht für Cash. Dieser wird immer dunkler und tiefer: "If I had no love for live / I'd become of your flow". Ein Mann schaut auf den Fluss und denkt an die Freiheit, die der Tod brächte: Wie viel mehr Cash kann ein Song sein?
Die zweite Eigenkomposition ist das Albumhighlight "All Of God's Children Ain't Free" – einer der besten (Cash-) Songs überhaupt und eine Vorbereitung auf den Man In Black, zu dem Cash noch wider allen Zeitläuften werden sollte. Einer der beiden Gospel auf dem Album, allerdings ein verquerer, wenn man so will sogar eine axiologische Gotteswiderlegung, wenn der Sänger erklärt, warum er sich selbst Glück angesichts des Leids auf der Erde verwehren muss. Das alles packen Cash, McCoy, die Tennessee Two und June in ein schmissiges, anklagendes Gewand, das nichts von seinem Reiz verloren hat. Der zweite Gospel "Amen" von Jester Hairston bleibt von allen Covern gefühlt am nächsten am Original, obwohl er am meisten von Cash entfernt ist. Cash konnte einfach nicht widerstehen, man merkt ihm die Freude über die eigene volkstümliche Südstaaten-Gläubigkeit förmlich an.
"Danny Boy" coverte Cash gleich zweimal, das zweite Mal auf "American IV" mit Rubin. Die irische Hymne schlechthin, geschrieben von einem Engländer, lebt einerseits von Cashs Monolog zu Beginn, der seine ganz persönliche Verbindung zu diesem Lied erklärt und die sehr gut zu seinem Freiheitswillen passt. Andererseits lebt der Song von seiner Stimme, denn musikalisch macht er wenig anders als alle anderen, die diesen Song coverten. Er macht es aber halt einfach besser und selten hörte man Cash mit so voller Stimme dröhnen, ein Hochgenuss. Junes Onkel A.P. prägte die Wahrnehmung von "Wildwood Flower", geschrieben wurde der Song aber schon 1860 von J.P. Webster. Die wahlweise hysterische und resignierende Abkehr von einem früheren Lover hat Cash auf sein Geschlecht gegendert, was dem Ganzen fast einen emanzipatorischen Aspekt gibt; ein tieftrauriger Grower.
"Orange Blossom Special" hat einen besonderen Platz in der Cashschen Diskographie verdient, und das nicht nur aufgrund seiner musikhistorisch wichtigen Solidarisierung von Johnny mit Bob. Die drei Songs des Re-Issues werden hier weggelassen; zwar lebte Cash zum Zeitpunkt dessen Veröffentlichung noch, der Abstand von 37 Jahren zwischen den Tracks erscheint aber so groß, dass die Songs, auch da es sich unter anderem um eine andere Version von "Mama" handelt, eher wie ein pflichtschuldiges (wenngleich qualitativ hochwertiges) Addendum wirken und nicht wie organischer Teil des Albums, der nur Vinylplatzbeschränkungen zum Opfer gefallen wäre.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
2 Kommentare
Musik ist eben Geschmackssache. Ich sehe weder in diesem Album stilistisch einen Wert für die Entwicklung der Musik, und auch keine Großtat indem man Dylan covert. Vielleicht ist es eher eine Großtat dies nicht zu tun.
Zu Johnny Cash ist schon alles gesagt. Die Definition von "mid" für mich.