laut.de-Kritik

Druckvoller Geheimtipp aus der Männerdomäne Ragga-Dancehall.

Review von

Es ist schwer zu erklären, warum Karamanti auch in alternativsten Szene-Kreisen kaum ein Mensch kennt. Und warum auf ihr Debüt von 2013, "Dancehall Retaliates", erst jetzt ein Longplay-Nachfolger folgt. Und wieso "Spiritual Warfare" so verdammt selbstsicher klingt. Als ob die Welt nur darauf gewartet hätte. Außer vielleicht den einen Punkt, über den man im ersten Satz ihrer Biographie stolpert: "Obwohl die Reggae/Dancehall-Industrie von Männern dominiert wird, steht Karamanti für die starke schwarze Frau ein". Und da muss ich ihr als männlicher Musikkritiker leider Recht geben: Besagte "Industrie" lässt aus nicht näher überlieferten Gründen keine Frauen hochkommen, es sei denn sie singen unschuldige Liebesschnulzen oder wackeln aufreizend mit einem kurvigen, knapp bekleideten Gesäß. Mit Substanz stehen die Chancen derweil schlecht.

Dummerweise - also für sie dumm - ist Karamanti eine schlaue Wort-Jongleurin auf unheimlich gut gemachten Beats, vom Schlage und vor allem vom schnellen Zungenschlage eines Protoje, aber bis dato nicht Teil seines 'Camps'. Sie versucht mit zahllosen internationalen Connections, ihr "spirituelles" Modell von Dancehall-Kriegsführung durchzuziehen. Ihre Songs schreibt sie alleine, den wummernden Sound zimmerten – nebst Leuten aus aller Welt - Delroy Pottinger, seines Zeichens Grammy-nominiert als Tontechniker fürs Toots-Abschieds-Album, und der kürzlich verstorbene Beatmaker Tixie Dixon, der Junior Kelly und Sizzla zu Studio-Profis machte. 

Der "Sabbath (Freestyle)" in der Mitte im Tracklisting saugt erstmal Aufmerksamkeit an. Sie kann freestylen? Absolut! Und bämm, rammt sie Silbe für Silbe mit einer Freude am Zerfletschen der Wörter in die Club-taugliche, house'ige Soundkulisse des äußerst coolen Riddim-Unterlegers. Und nochmal bämm, sie ist "busy", spuckt sie ins Mikro, sie hat 'nen Fulltime-Job, "spit the lines", schäumt sie mit dunkler, rauer Stimme, "ping-pong" und "boom" keift und kläfft sie, aber der Sonntag, der ist ihr heilig für Gott; sich sechs Tage pro Woche einen abschuften reicht.

Der "göttliche Schöpfer" bekommt die erste Zeile des Albums gewidmet, worauf dann fetziger Dancehall im Vibe der frühen 90er mit der Soundtechnik von heute losbricht. Ein flammendes Plädoyer für Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, "People Of The Lie", wird später zu einem Höhepunkt dieser stimmungsvollen Sammlung an Riddim-Knallern.

Wirklich neu? Also, ja gut, es gab Lady Saw, auch da schabten die Stimmbänder scheinbar an Schleifpapier bis zur maximalen Entweiblichung, und Lady Saw entdeckte (nach einer monetär einträglichen Karriere), dass sie fortan nur noch für Jesus singen wolle (und seitdem heißt sie Minister Marion Hall und macht Gospelreggae als Messdienerin). Was aber nie jemand machte, ist durch und durch religiösen Dancehall in Bubble-Ästhetik. Und verrückter Weise, geht es von "Start With A Prayer" fröhlich weiter mit "God Answer Prayer". Die Beats geben in punkto Druck kein Bar nach, dröhnen vehement, unterstreichen Message und Präsenz, signalisieren "so, ich bin jetzt da, und ihr hört mir jetzt alle definitiv bis zuende zu!"

Zum Ausklang des schwachen Reggae- und Dub-Jahres 2021 mit seinen bedrückenden Todesfällen von U-Roy über Lee Perry bis Robbie Shakespeare ist die Platte für Fans von Rasta-Musik ein echtes Angebot, ein Trost und der Beweis: Es gibt sie noch, die Leute in der Generation von Lee Scratch Perrys Urenkeln, die checken, was dubbige Echoeffekte sind und wie man die zur Unterstreichung der eigenen Lyrics einsetzt – siehe "Faith", ein Hip Hop-Ragga in plakativ schlecht ausgespitteter französischer Aussprache und Patois mit Ghetto-Attitüde.

Das electropoppige "3 Weapon" erinnert stilistisch daran, dass es auch ein paar Frauen gibt, die Karamantis Job ebenfalls drauf hätten, wie Renée 630, Dovey Magnum, Ishawna, Kim Nain, 9Tyz und noch ein paar Heroinnen mit guten Ansätzen, die bei manchen Produktionen der Billig-Schiene anheimfielen und gerne wählerischer bei ihren Produzenten sein, auf Qualität vor Quantität setzen könnten. Vergleichbare Wortflüsse haben sie alle nicht, textlich meist nur ein Sujet (Dovey einfach Sex, Ishawna ihre Kurven). Lediglich 9Tyz, benannt nach den Nineties, dem goldenen Jahrzehnt des Ragga-Dancehall-Hip Hop-R'n'B-Mischmasch (Foxy Brown, Shabba Ranks, Dr. Alban), ist eine ernst zu nehmende Konkurrentin, die hingegen ein Image 'süß mit pinken Zöpfen' pflegt. Karamanti jedoch will nicht süß rüberkommen.

Die resolute Entertainerin hat ihre 90er schließlich auch gepflegt studiert, den Oldschool Hip Hop inlusive. So beherrscht sie, was die Daddy Freddys, Red Rats und Goofys von damals drauf hatten: Den Wort-Flow auf Reggae-Drops spannend, druckvoll und Hördauer-verlängernd designen. Ob sie ein Geheimtipp bleibt, oder ob sie die Jah9 des Dancehall wird oder das nächste Talentscouting-Opfer Shaggys oder Walshy Fires? Werde ich gespannt verfolgen. Lasst euch vom komischen Grafikdesign auf dem Cover nicht abschrecken, das gehört so - Jamaican Style. Aber die Musik ist toll, und die Künstlerin ebenso.

Trackliste

  1. 1. Start With A Prayer
  2. 2. God Answer Prayer
  3. 3. Rate You
  4. 4. Faith
  5. 5. Sabbath (Freestyle)
  6. 6. 3 Weapon
  7. 7. Spiritual Realms
  8. 8. Blood Sacrifice
  9. 9. People Of The Lie
  10. 10. Survive

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