16. Oktober 2020

"Bob Dylan war wie ein Freund"

Interview geführt von

Vier Jahre liegen zwischen Katie Meluas letztem Album "In Winter" und ihrem aktuellen Longplayer "Album No. 8" – vier Jahre, in denen sich die gebürtige Georgierin intensiv mit Literatur, Poesie und anderen Formen des geschriebenen Worts beschäftigte.

Sie habe die Lücke zwischen Songtexten und Literatur schließen wollen, erzählt Melua im Interview – und dafür sogar Literaturkurse belegt. Auch musikalisch war "Album No.8" durchaus ein ambitioniertes Projekt – denn Melua und ihr Team arbeiteten für mehrere Songs mit dem Georgian Philharmonic Orchestra.

Dennoch: "Album No.8" zeigt Melua genau so, so wie man sie kennt: Mit sanftem Pop mit Jazz und Folkeinflüssen – unaufregt, introspektiv und eingängig. Wie das Album genau entstand und welche Einflüsse wichtig waren, erzählte uns die Künstlerin im Gespräch.

Katie, wie haben Sie die letzten Monate im Lockdown und der Quarantäne verbracht?

Ich hatte Glück, dass ich mit dem Album ein wirklich intensives Projekt hatte. Ich konnte mich also in meine Arbeit flüchten. Mein Vater ist ja Arzt für Allgemeinmedizin. Als er während dem Ausbruch der Pandemie Abends nach Hause kam, holte mich die Realität ein. Aber während des Tages war ich mit dem Mixing der Platte beschäftigt – und darauf zu achten, dass jeder am Leben bleibt. Ich habe die Zeit der Quarantäne mit meiner Mutter, meinem Vater und meinem Bruder verbracht. Wir lebten im selben Haus. Mein Bruder spielt seit drei Jahren auch in meiner Band, somit konnten wir ein paar gemeinsame Performances spielen für Instagram, die sozialen Netzwerke. Die Pandemie hat auch meine Interaktion im Social Media grundlegend verändert. Ich war da sehr altmodisch und defensiv, wollte meinen Alltag nicht unbedingt teilen. Aber die Pandemie zeigte mir, wie wichtig und brillant diese neue Welt ist, in der man mit Leuten in Kontakt bleiben und ihnen zeigen kann, dass es einem gut geht.

Gemixt haben Sie das Album also während der Quarantäne, wann haben Sie denn mit den Arbeiten an dem Album an sich begonnen?

Es ist in den letzten vier Jahren entstanden. Der Anfang des Prozesses war ganz anders wie sonst, ich brauchte eine Pause. Ich musste mich auf meine Rolle als Textschreiberin fokussieren. Ich belegte Kurse, lernte aus Büchern, forschte, um eine bessere Texterin zu werden. Daraus wurde ein langer Weg – denn je mehr ich mich der technischen Seite widmete, desto mehr erkannte ich, wie viel man hier rausholen kann. Es gab viel, das ich tun musste. Es galt, die Lücke zwischen Literatur und dem Aufnehmen einer Platte irgendwie zu schließen – und da wollte ich völlig eintauchen. Dann brauchte es auch noch lange, den richtigen Produzenten zu finden. Jemanden, der verstand, dass die Songs tief im Klassizismus verwurzelt sind, im Great American Songbook, in der Folk-Tradition. Jemand, der aber auch etwas Frisches reinbringt und Wert auf Musikertum legt. In Leo Abrahams fanden wir diese Person. Ich habe mich mit Co-Autoren zusammengetan, die mir dabei halfen, die Musik an den richtigen Ort zu transportieren. Nebenbei feilte ich immer weiter an den Texten, bis die Songs fertig waren. Ich habe Leo viele Referenz-Songs vorgespielt – und er hat es geschafft, diese Songs auf eine grandiose Art und Weise zum Leben zu erwecken.

Zwischen diesem Album und dem Vorgänger stecken vier Jahre – so lange wie noch nie zwischen zwei Alben von Ihnen.

Ja, das hat es eben gebraucht, um einzutauchen. Ich befasste mich mit Poesie und versuchte, wie eine Dichterin zu schreiben. Aber dann erkannte ich, dass das nicht genug ist. Gedichte sind keine Songtexte. 'Okay', dachte ich, 'Was mir fehlt, ist das Storytelling'. Ich ging also in die Faber Academy und schaute mir die Short Story Fiction an. Ich schaute mir jedes Genre an, die mir die Kunst des Wortes beibringen konnte – und untersuchte, was es mir für das Schreiben eines Albums bringen konnte. Ich durchschritt all diese verschiedenen Phasen der Recherche. Im Übrigen finde ich gar nicht, dass vier Jahre so lange sind, um ein Werk zu schaffen. Ob das jetzt gut oder schlecht ist: Ich habe in den letzten siebzehn Jahren oft wahnsinnig schnell an Platten gearbeitet, aber diesmal brauchte es Zeit. Es ist mein achtes Album – man muss an diesem Punkt tiefer eintauchen, weitergehen und in seinem eigenen Werk etwas Neues finden.

Gab es Autor*innen, Texter*inne oder Dichter*innen, die Sie speziell beeinflusst haben – oder die Sie weitergebracht haben?

Bei meinem Faber-Kurs entdeckte ich Flannery O’Connor. Sie ist eine US-amerikanische Southern-Gothic-Autorin. Ihre Essays übers Schreiben sind toll, sie ist tough und unglaublich ehrlich. Sie schafft es, das alltägliche Leben gnadenlos ehrlich, aber extrem liebevoll in Worte zu fassen. Das gefiel mir, das wollte ich in dieses Album einbringen. Ich wollte ehrlich beschreiben, was in meinem Leben passierte – oder was ich bei anderen beobachtete. Auf eine ehrliche Art und Weise, aber mit Respekt. Bob Dylan, ich las sein "Chronicles"-Buch. Er geht mit seinen eigenen Einflüssen unglaublich ehrlich um. Ich genoss es, jeden Namen aufzuschreiben, den er als frühen Einfluss bezeichnete – und dann diese Künstler und Songs zu entdecken.

"Wir wussten, dass wir etwas einzigartiges bekommen würden"

Welche Einflüsse waren es, die Sie überhaupt erst zum Musik machen gebracht haben?

Das waren Dylan, Joni Mitchell – und Eva Cassidy, vielleicht der wichtigste Einfluss. Sie konnte klassische Songs covern und sie als eigenes Kunstwerk dastehen lassen. Als ich zu touren begann, brachte mich meine eigene Band auf Acts wie The Band oder The Grateful Dead. Heutzutage bin ich geradezu besessen von Nick Drake, er ist einfach unglaublich.

Letztes Jahr haben Sie Best-Of-Album veröffentlicht – war das ein Gefühl der Tabula Rasa für Sie oder einfach eine Pflichtübung?

Ich wurde seit einigen Jahren gefragt, ob ich eine Best Of machen wolle. Ich zweifelte daran. Einerseits dachte ich, ich wäre nicht alt genug dafür — und ich war mir auch nicht sicher, ob das mein Backkatalog bereits hergeben würde. Wissen Sie, was mich vom Gegenteil überzeugt hat? Es gibt hier in London eine Schule für georgische Immigrant*innen. Eltern bringen ihre Kinder dorthin, damit sie etwas über georgische Kultur lernen. Sie hatten ein Liederfest – und die Kinder entschieden sich für Songs aus meinem Katalog. Ich saß dort und hörte, wie die Kinder meine Songs sangen. Plötzlich war ich selbst nicht mehr in den Songs drinnen und sah und hörte sie aus einer ganz anderen Perspektive. Es gab mir den Mut, eine Best Of zu machen, auch wenn ich hoffe, dass ich das hier noch lange machen werde.

Für das letzte Album haben Sie mit einem georgischen Chor gearbeitet, diesmal war es das Georgian Philharmonic Orchestra. Wie war diese Zusammenarbeit?

Der Dirigent ist ein Freund von mir. Er meinte: Das nächste Mal, wenn du mit einem Orchester arbeitest, musst du mit uns was machen. Er hat dieses Orchester wiederaufgebaut. Georgien in den 1990er-Jahren war nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in einem schlechten Zustand. In den letzten fünf bis zehn Jahren lebte das Land wieder auf, es gibt jede Menge fantastischer Künstler. In dem Studio, in dem wir das Album aufgenommen haben, entstand auch alte georgische Filmmusik. Der Ort fühlte sich richtig an. Georgien ist umringt von Bergen, wir haben das Schwarze Meer, den Einfluss der ehemaligen Sowjetunion und viele europäische Einflüsse. Es gibt da diese ganz spezielle Geschmacksnote und Atmosphäre. Wir wussten, dass wir etwas Einzigartiges von ihnen bekommen würden.

Manche Künstler berichten, dass es sich als extrem schwierig gestalten kann, dem Orchester die eigenen Ideen zu vermitteln. Wie war die Kommunikation bei Ihnen?

Ich hatte Glück – denn mit Leo Abrahams hatten wir einen fantastischen Produzenten und Arrangeur. Er wurde mir von unserem Bassisten und Musical Director empfohlen, Tim Harris. Tim ist ein unglaublicher Künstler, er möchte immer in das Herz der Musik vordringen und etwas Originelles und Neues erschaffen. Es ist komisch, dass jemand wie ich mit jemandem wie Tim so lange zusammenarbeitet, aber wir sind einfach zusammengeblieben. Er leitet die Band seit vielen, vielen Jahren. Auf der Suche nach einem Produzenten empfahl Tim eben Leo. Leo sagte gleich zu Beginn, dass seine Rolle es wäre, die Vision des Künstlers zum Leben zu erwecken. Ich spielte ihm das Werk des georgischen Komponisten Giya Kancheli und andere Sachen vor – aber ich erklärte ihm nicht, was ich genau wollte. Ich war neugierig, was er tun würde. Wenn man kreativ arbeitet, braucht man Freiheit – ich erwarte mir Freiheit, aber ich gestehe sie auch anderen zu. Als ich hörte, was er mit dem Orchester gemacht hatte, war ich hin und weg. Ich musste nichts kommunizieren – aber übersetzen, weil ich sowohl die georgische, die englische als auch die musikalische Sprache verstehe.

"Es geht ums gemeinsame Musikhören"

Wie sieht in Ihrer Arbeit die perfekte Produzentenrolle aus?

Da gibt es zwei Dinge, es ist ein Paradox. Ein Produzent muss aufmerksam sein und die Vision des Künstlers zum Leben erwecken. Das ist das eine, das hatte er, damit kam er zu mir. Das kann man nicht erzwingen – das hat man oder nicht. Aber man braucht eben auch den Raum und die Freiheit, kreativ arbeiten zu können. Mal abgesehen vom Orchester: Wenn ich mit Musikern arbeite, live oder im Studio, schreiben wir nicht alles auf. Sie improvisieren. Sie bekommen die Songs, die Akkorde, die Strukturen – aber innerhalb dieses Rahmens haben Sie viel Freiheiten.

Erzählen Sie uns von einem typischen Arbeitstag in Ihrem Leben als Songwriterin.

Mein idealer Tag: Ich gehe ins Studio, wo ich einen Büroraum habe. Ich habe Songs, Ideen, einen Laptop und ein kleines Mikrofon. Ich nehme meine Stimme auf und ich tippe auf der Tastatur. Ich probiere verschiedene Texte aus und singe sie ein, ich muss das alleine machen. Ich habe auch Co-Autoren dabei, aber nur an ein paar Tagen im Monat. Sie nehmen die Skizzen und Notizen mit und errichten daraus die Architektur des Rhythmus, der Melodien, der Harmonien. Ich bekomme Demos – und damit erarbeite ich dann die genauen Texten und Gesangslinien.

Arbeiten Sie ständig an neuen Ideen – oder speziell dann, wenn es an eine Produktion geht?

Ich bin mir dauernd bewusst, was gutes Material ausmachen würde. Ich bin immer auf der Lauer, schaue und höre mich um. Aber das tatsächliche Schreiben kommt dann, wenn eine Deadline gesetzt wird.

Ihr achtes Album heißt "Album No.8" – das macht auch durchaus Sinn. Wie kam es dazu?

Ich hatte keinen Titel – und die Deadline kam immer näher. Stress setzte ein und ich überlegte, einen Songtitel als Albumtitel zu nehmen. Aber das hätte das Album zu etwas gemacht, das es einfach nicht ist. Ich habe Zeilen aus Songs versucht – aber auch hier passierte nichts. Mein brillanter Manager schlug dann vor: Wie wär's einfach mit Album No.8? Und ich dachte nur: Das ist es!

Welche Vorstellung hatten Sie, wo sich die Arbeit hinbewegen sollte?

Meine Erwartung war, dass die Songs sehr klassisch sein sollten, verwurzelt in der Folk-Tradition – aber auch neu und frisch sein sollten. Und dass der Fokus auf Storytelling und guter Lyrik liegen sollte, das bedeutet mir die Welt.

Lassen Sie uns noch mal spezifisch auf den Folk-Einfluss zu sprechen kommen. Können Sie spezielle Künstler*innen nennen, die für Sie wichtig waren?

Ich entdeckte Joe Hickerson [US-amerikanischer Folksänger und Folkforscher, Anm.]. Als Interpret ist er einfach unglaublich. Einen Song namens "Waters Of Time" singt er mit seiner Ehefrau – oder seiner Schwester, ich bin mir da nicht sicher ... aber es ist unglaublich. Sein Song "Casey Jones" wurde von The Grateful Dead adaptiert, großartig. Ich liebte diese Geschichtenhaftigkeit dieser Lieder. Ich wollte immer in den Folk eintauchen, wusste aber nie, wo ich anfangen sollte. Heute gibt es soviel Möglichkeiten, soviel verfügbare Musik – man braucht gute Kurator*innen dafür. Früher waren das meine Onkels – sie zeigten mir Led Zeppelin, Queen und Black Sabbath, als ich sechs Jahre alt war. Mit Spotify hat man so viele Möglichkeiten, in etwas einzutauchen, dass man oft überfordert ist – deswegen war das Dylan-Buch für mich so wichtig. Er war wie ein Freund, der diesen Ort eben perfekt kannte.

Nutzen Sie Streaming-Services zum Entdecken?

Ja, schon – aber es ist einfach nicht dasselbe. Ich habe darüber schon auch Musik entdeckt, aber es ist nicht dasselbe, wie wenn dir jemand, der sich wirklich auskennt, etwas empfiehlt. Natürlich ist Musik subjektiv – aber wir gravitieren zu Menschen, die wissen, was man für Musik mag oder die einen als Person einschätzen können. Oder es geht um das Teilen, um das gemeinsame Hören.

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