laut.de-Kritik
Chaos ist eine Leiter.
Review von Dani FrommWenn alles am Arsch ist, wenn die Tiere ihre Rache gehabt haben, wenn die Welt in rauchenden Trümmern liegt, zwischen denen noch hier und da Glutnester schwelen, dann schlägt die Stunde des unkaputtbarsten Ungeziefers von allen. Dann beginnt "Die Herrschaft Der Kakerlaken".
Lemur macht mit der Geräuschkulisse seinem EP-Titel von Anfang an alle Ehre. Wie Insektenfüße und -flügel schabt, raschelt und kratzt es unter einer uralt, wie aus einer anderen Zeit gefallen anmutenden Tonaufnahme. Ein irischer Dichter namens David Ryan rezitiert sein Poem, das dem Opener den Namen gab: "Everything deserves a song", respektive: "Alles Hat Ein Lied Verdient".
Die verrauschte, zerschrammte Akustik lässt grisselige Schwarzweiß-Bilder vor dem inneren Auge vorbeiflimmern, es knistert und rauscht, die Luft scheint wie statisch aufgeladen, aus der Ferne rollt ein Gewitter heran: Lemur beschwört überaus beklemmende Stimmung herauf, in die er anschließend - mit nöliger Stimme, aber passgenau - seine Zeilen platziert.
Man könnte glatt auf die Idee kommen, er habe als einziger die Apokalypse überlebt. Bloß gut, dass er ein Mann mit vielen Begabungen ist: Außer für die Produktion und den Rap trägt Lemur für den mit Ragga-Vibe-geschwängerten Gesang Sorge. Die mönchischen Backgroundchöre hat er offenbar ebenfalls selbst eingesungen. Is' ja sonst keiner mehr da, außer ein paar Schaben.
Einsam, aber mit offenen Augen spaziert Lemur durch das Tohuwabohu, fängt hier etwas Vogelgezwitscher ein, stolpert dort über einen Wobbelbass. Ja, Dubstep, Kinder, das gab es auch mal, lang, lang ists her.
Schräg, ein bisschen verwahrlost, halb verfallen wie die Viertel, die da - gerade noch, aber nicht mehr lange - den unaufhaltsamen Baggern im Weg stehen, klingt "Späne". Es geht um Gentrifizierung, ohne aber darüber in Ach-wie-schlimm-Mimimi-Schockstarre zu verfallen. Es ist halt, wie es ist, und ist ja auch irgendwie spannend, sich vollziehende Veränderungen zu bezeugen.
Lemur, so angeknackst und innerlich zerrissen er zuweilen wirkt, hat sich offenkundig durch alle Stürme hindurch einen Funken Optimismus bewahrt. Der erlaubt ihm, in "Katastrophen" nicht nur Drama und Zerstörung zu sehen, sondern auch die Chancen. Noch zäher als die Kakerlaken keimt nämlich allüberall die Hoffnung zwischen den Scherben. Dass das Wissen darum nicht jedem nützt, ändert nichts daran: Chaos ist kein Abgrund, jedenfalls nicht nur, Petyr Baelish wusste Bescheid. Für den, der sie findet, ist Chaos eine Leiter.
Angesichts der opulenten Überfülle musikalischer wie inhaltlicher Details ließe sich leicht vergessen, dass "Die Herrschaft Der Kakerlaken" nicht sehr lange währt. Ich sollte wahrscheinlich empört darüber sein, dass Lemur gerade einmal eine Handvoll Tracks in die Runde wirft, ehe er sich, Kinderlieder auf der Knochenflöte pfeifend, schon wieder in den Wald verkrümelt. Tatsächlich bin ich aber bloß mindestens six feet deep verliebt.
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