laut.de-Kritik
Ein Pamphlet für den Irrsinn der Jugend.
Review von Michael SchuhFranzösischsprachige Musik hat in Deutschland keine Chance. Eine eherne Regel im Musikbetrieb der 1970er und 1980er Jahre, vollmundig gepredigt von Mogulen großer Plattenfirmen, die eine gewisse Übung darin hatten, ihre deutsche Käuferschaft für unmündig zu erklären. Man saß als langjähriger Labelmitarbeiter hoch zu Ross in der Zeit vor dem Internet. Gegenüber Punkbands, die ihre Demos vorbei brachten, fielen Anfang der 80er Sätze wie "Lassen sie mir die Kassette mal da. Ich höre mir das am liebsten auf der Heimfahrt in meinem Porsche an" (Pyrolator, "Verschwende deine Jugend").
Bei französischen Künstler*innen war es noch einfacher: Anfragen bei deutschen Labels aus Paris wurden einfach direkt abgelehnt. Außer "Ella, elle l'a" oder "Voyage Voyage" (beide 1987), die man als Deutscher auch zu später Stunde noch einigermaßen unfallfrei lallen kann, wurde uns wenig zugetraut. Wie im Falle der Pariser Synth-Wave-Gruppe Indochine musste ich mir daher auch Les Rita Mitsouko einst erst von einem französischen Freund mit Nachdruck empfehlen lassen. Die Aufforderung ihres 1985er Sommerhits "Marcia Baila" ("Marcia tanzt") setzte ganz Frankreich quasi über Nacht um, in meinem badischen Dorf schien dafür zwischen Falco und Opus wenig Raum.
Oft spielte ja der Zufall großen Sendeanstalten wie dem Südwestfunk in die Arme, wenn in sogenannten Wunschsendungen Songs aus Frankreich verlangt wurden, weil begeisterte Hörerinnen sie dort zum ersten Mal im Urlaub gehört hatten. Aber machen wir uns nichts vor: Wenn es hart auf hart kam, spielten die Formatradios lieber die Eurythmics, die waren auch irgendwie schräg und modern, aber sangen wenigstens auf englisch. Selbst Ikonen wie Johnny Hallyday oder Jacques Dutronc wurden hierzulande nicht mit der Beißzange angefasst, Phänomene aus einem anderen Kulturkreis, kann ja kein Mensch mitsingen.
Das kann man bei "Marcia Baila", aufgenommen in der Küche auf einem 4-Spur-Rekorder, in großen Teilen auch nicht. Der Text über die an Krebs gestorbene Freundin und argentinische Tänzerin Marcia Moretto, die das Duo auf der ersten Tour begleitete, ist obendrein noch traurig und morbide: "Es ist der Tod, der dich ermordet hat, Marcia", kreischt Sängerin Catherine Ringer, "es ist der Krebs, den du in deine Arme genommen hast" - nicht gerade ein Paradetext für die Dudelfunk-Primetime.
Der Song voll opernhaftem Wahn, in Form und Ausdruck zeitlos: Schleichende Moog-Synthies, fanfarengleiche Bläser und eine nervös tickende Cowbell kreieren eine spezielle, angespannte Dynamik, der Ringer mit rollendem "R" und ihrer theatralischen Gabe die Krone aufsetzt. Im Mittelpart lädt ein soft angeschlagenes Piano zum Runterkommen ein und bereitet niemanden auf Ringers verstörende "Uhh-uhh"-Coda vor - mehr Impro-Theater war im Pop nie. Nicht zu vergessen dieser speziell treibende Groove - selbst Ricky Martin konnte 1998 nicht widerstehen.
Für die Pariser ist der unglaubliche Erfolg der Instant-Nummer (knapp eine Million verkaufte Singles in Frankreich) ein "Sieg für den Underground", dem man sich seit der Bandgründung 1980 verpflichtet fühlt. Aus diesem Grund wählten Les Rita Mitsouko (der Artikel taucht erst beim zweiten Album auf, nachdem Catherine stets als Rita und Fred als Mitsouko angesprochen werden) auch die schratige deutsche Krautrock-Koryphäe Conny Plank als Album-Produzenten aus, in dessen Portfolio neben Neu! und Can auch die noch häufiger mit der Band genannten Eurythmics auftauchen.
Ihr Kunstanspruch lässt sich direkt am Videoclip ablesen. Während sich der Boulevard (und später auch Serge Gainsbourg in einer TV-Show) an der Tatsache ereifert, dass Ringer einst in Pornos mitwirkte und Kollege Fred Chichin eine Knastvergangenheit hat, wandert der von Jean-Paul Gaultier und Thierry Mugler ausgestattete Clip (man beachte: Ringer trägt den berühmten Spitzen-BH lange vor Madonna) umgehend ins Museum of Modern Art.
"Rita Mitsouko" ist nicht ihr kohärentestes Album. Die beiden von Bowie-Intimus Tony Visconti produzierten Folgealben "The No Comprendo" und "Marc & Robert" überführen den eckigen New Wave in provokanten Hochglanz-Pop, Publikum und Hochkultur applaudieren gleichsam. Jean-Luc Godard filmt ihre Studioaufnahmen, Sven Väth legt die Hits "Singing In The Shower" und "C'est Comme Ça" Ende der 80er im Omen auf, später laufen ihre Videos auf MTV in "120 Minutes".
Demgegenüber ist das Debütalbum mehr glühende Verheißung für eine Avantgarde-Pop-Zukunft. Hinter jeder Ecke lauert Unheil: Wägt einen das fröhliche, von Vokaleskapaden freie "Restez Avec Moi" noch in trügerischer Sicherheit, empfängt "Jalousie" (Eifersucht) themengerecht mit eisigen Riffs, packendem Ideal-Wave und einer zeternden Catherine. Eben noch ging es um innige Zweisamkeit im Bett und nun das: Diese Frau, diese Schlampe, diese Nutte, du wirst an ihr zugrunde gehen!
"Le futur n°4" feiert eine unbeschwerte Synth-Funk-Party, mit "La Fille Venue Du Froid" folgt eine unheilvolle Slo-Mo-Rock-Etüde in mollgetränkter Monotonie - das französische Äquivalent zu The Cures "Faith". Später wird der ägyptischen Sängerin Oum Khalsoum mit Klängen aus Fernost gehuldigt. Kurz: Ein schwer vermittelbarer Mix, was für Menschen wie Conny Plank oder Madonna-Entdecker Seymour Stein zum Glück kein Hindernis darstellt. Die Sire-Records-Spürnase öffnet der Gruppe die Tore in die USA, wo wiederum Freaks wie die Sparks hellhörig werden, mit denen Rita Mitsouko 1988 kooperieren.
Das Debütalbum "Rita Mitsouko" bleibt ein Pamphlet für den Irrsinn der Jugend, es steht für den Glauben an die Kraft der Subkultur und die Lust am Zertrümmern des Etablierten. Es erleichtert einem die Traurigkeit, das Duo nie live erlebt zu haben. Die 2007 für München und Frankfurt angekündigten Konzerte zum Album "Variety" entfielen aufgrund von Fred Chichins schlechtem Gesundheitszustand.
Kurz darauf stirbt der Gitarrist mit 53 Jahren an Krebs. Seither ruht Les Rita Mitsouko als französisches Heiligtum, während die Faszination ihrer Musik auf immer neue Generationen überspringt - ähnlich wie bei Moloko. Ihr musikalisches Renommée steht außerhalb jeder Diskussion, was sich allein daran ablesen lässt, dass Ringer 2011 für einen Song ihres ersten Soloalbums nach Los Angeles fliegt, um dort John Frusciante und RZA zu treffen. Gelegentlich singt sie die alten Lieder noch live, an der Gitarre steht dann der gemeinsame Sohn Raoul, der das Erbe Chichins weiterträgt.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
5 Kommentare
„Selbst Ikonen wie Johnny Hallyday oder Jacques Dutronc wurden hierzulande nicht mit der Beißzange angefasst, Phänomene aus einem anderen Kulturkreis, kann ja kein Mensch mitsingen.“
Peter Maffay oder Grönemeyer will im Ausland auch keiner hören - manchmal ist es für alle besser, wenn „Ikonen“ im eigenen Land bleiben.
Marcia Baila unabhängig von der Sprache natürlich erstklassige Ware für jede Indie-Disco.
Dieser Kommentar wurde vor 2 Jahren durch den Autor entfernt.
Marcia Baila hörte ich zum ersten Mal in diesem Film von Angnès Varda. Ging mir nicht mehr aus dem Kopf.
https://youtu.be/Htv_iRpzr4w
Herrliches Gute-Laune-Album!Ich mag Musik aus anderen Ländern entdecken! Aus Afrika Kommen immer mehr selbstbewusste vor Ideen sprühende Musiker!Dank Spotify kann man auf Entdeckungsreise gehen
Wobei "The No Comprendo ! das weit aus bessere Album ist. Mit "Andy" und "C´est comme ca" .
Und was französiche Musik angeht. Es gibt so viele gute Sänger:innen und Bands . Und ich finde immer wieder neue Interpreten von denen ich noch nie etwas gehört habe.