laut.de-Kritik
Der Ganzkörper-Tätowierte liefert Symphonien für Millionen.
Review von Michael SchuhLetztes Jahr lungerte ich spätnachmittags beim M'era Luna Festival an der Hauptbühne herum, die Sonne stand hoch am Himmel und Marc Almond plötzlich auf der Bühne. Vierzig Minuten voll inbrünstiger Theatralik später war ich hin und weg vom Meister der großen Pose. Almond, dessen Solowerk mich nie sonderlich reizte, fand auch ohne Soft Cell den Weg zurück in mein Elektroherz.
Als er vor kurzem dann aber mit Rosenstolz kollaborierte, war mir eher nach Kollabieren - ein Song für den ollen Grand Prix mit den nervigen Berlinern ... also nee. Dennoch könnte Almonds Popularität durch "Total Eclipse" einen neuen Schub bekommen haben, was "Stranger Things" dringend zu wünschen wäre. Denn Marc Almonds dreizehntes Album ist eine wundervolle Ansammlung dunkler, romantischer Pop-Chansons. Gleich die Vorab-Single "Glorious" deutet die Rückkehr zu elektronisch erzeugten Emotionen an, die über die volle Albumlänge erhalten bleibt.
Beim ruhigen "Born To Cry" im orchestralen Gewand schimmert wieder der Jacques Brel-Liebhaber durch, während das schräge "Come Out" dem Strom der Eingängigkeit erstmals entgegen schwimmt. Und wer singt da so süßlich in luftigen Höhen mit? Miss Sara Gudmundsdottir, nicht verwandt mit Björk, aber eine vorzügliche Ergänzung zu Almonds virtuosem Organ.
Wem die opulente Melancholie bis hierhin förmlich die Luftröhre verengt, wird bei der Albumperle "Under Your Wing" mit vollem Streichereinsatz wieder kräftig durchatmen können - Popstar Almond at his best. Unfassbar, dass er an diesem Song seit fünf Jahren erfolglos herumbastelte. "Lights" könnte man als eine Ode an sein Showstar-Leben begreifen. Das leidenschaftliche Wechseln von Empfindungen zeichnet diese Stilgattung aus, die außerdem rühren und ergreifen können muss. Demnach hat Almond ein ganzes Album voller Oden aufgenommen!
Mit dem sakralen Hidden Track "Amo Vitam" kommen Rosenstolz erneut zum Zuge, ohne mich zu begeistern. Doch was der Ganzkörper-Tätowierte bis Track 12 abliefert, sind Symphonien für Millionen. Düsteres Cabaret-Feeling der Extraklasse. Wer hören kann, wird fühlen!
Noch keine Kommentare