laut.de-Kritik

Comeback im Schleichgang.

Review von

Normalerweise sollte man Kunst und Künstler:innen sauber trennen. Aber bei Marilyn Manson respektive der Privatperson Brian Warner ist das gerade unmöglich. Zu viele Elefanten drängen sich da im Raum, als dass sie sich ausblenden ließen. Die Vorwürfe gegen den 55-Jährigen wiegen schwer, und die jüngsten Turbulenzen haben direkt zur Genese seines neuen Albums beigetragen und dazu, wo Mansons Karriere gerade steht.

Darum ein Exkurs in gebotener Kürze: Warner sah und sieht sich mit Missbrauchsvorwürfen mehrerer Frauen konfrontiert. Den Anfang machte 2021 seine Ex-Verlobte, die Schauspielerin Evan Rachel Wood, die dem Sänger jahrelangen Missbrauch und Vergewaltigung vorwarf. Mehrere weitere Frauen erhoben danach ähnliche Anschuldigungen. In den letzten Monaten wurden einige Gerichtsverfahren eingestellt oder außergerichtlich beigelegt. Der Streit mit Wood dauert dagegen an, Warner hat seine Gegenklage gerade erst fallengelassen.

Der Sänger bestreitet alle Vorwürfe und ist bis heute in keinem Fall verurteilt worden. Doch bei derart viel Rauch vermuten auch Leute in seinem Umfeld ein Feuer: Der Langzeit-Manager flüchtete, die alte Plattenfirma Loma Vista warf Manson hochkant raus und stoppte jegliche Promotion für sein letztes Album "We Are Chaos". An eine Karriere war in den letzten Jahren nicht zu denken. Das ändert sich erst jetzt, nachdem Nuclear Blast den Sänger unter Vertrag genommen hat und sein zwölftes Album "One Assassination Under God – Chapter 1" veröffentlicht. Als Sparringspartner stand ihm erneut Multiinstrumentalist und Filmscore-Profi Tyler Bates zur Seite, mit dem er bereits "The Pale Emperor" und "Heaven Upside Down" eingespielt hat. Als Drummer ist wieder Gil Sharone an Bord.

Allzu dolle pocht übrigens auch Manson nicht auf die Trennung zwischen Privatem und Karriere, das zeigen die Lyrics, die sich oft als seine persönliche Verarbeitung der Geschehnisse verstehen lassen. Respektive als ein Suhlen in der Opferrolle und eine Abrechnung mit all jenen, von denen er sich unfair behandelt fühlt: "Everybody showed up for the execution / But nobody would show their face / To shoot you in the back of the head and call it sacrifice / They don’t deserve to even say your name", singt er etwa im Eröffnungstrack. Besonders tief schöpft Manson auch wieder aus dem religiösen Vokabular, um wehzuklagen. Ein Songtitel wie "Meet Me In Purgatory" hat keinen doppelten Boden, Zeilen wie "Will you stay by my side / Or will you stand in their way? / What will you do / When they come to murder me?" schon gar nicht.

Musikalisch überwiegen auf dem Album ein flächiger Sound und stromlinienförmige Kompositionen. Der Titeltrack "One Assassination Under God" startet im Ruhepuls, eine langsame Kamerafahrt über einen nächtlichen Friedhof. Manson singt mit ruhiger Stimme, der erste Powerchord lässt sich bis zum Refrain bitten. Zwischenzeitlich nimmt die Nummer mit kratzigem Stakkato-Riff zwar eine gefährliche Pose ein, bäumt sich aber nicht wirklich auf. Die fünfeinhalb Minuten fühlen sich echt so an.

Danach bringt auch "No Funeral Without Applause" kaum Bewegung in die Sache. Bates zeichnet erneut eine halbballadeske Klanglandschaft, in der einzig nett eingestreute Dissonanzen das Interesse wecken. Manson bewegt sich erst flüsternd durch die Strophe, um im Refrain mehr Punch in die Stimme zu packen. Zusammen mit den Drums kickt der Song hier erstmals richtig rein, oder versucht es zumindest.

Irgendwie alles bedächtig und lauwarm soweit, das soll sich mit dem angriffslustig startenden "Nod If You Understand" ändern. Das schnalzende Bassriff trägt die Strophen fast allein, im Refrain wird dann lärmiger ausgeteilt und der Bandchef keift wütend: "Look at yourself for someone to blame / You’re the only one who should be ashamed." Solide Manson-Kost, irgendwo im Schatten von "1996" (von "Antichrist Superstar") oder "Hey, Cruel World" (von "Born Villain") angesiedelt. Nur ist Tyler Bates halt kein Twiggy Ramirez, und solche punkigen Songs zählen nicht zu seinen Stärken.

Besser gelingt die Aggroschiene auf dem vorab veröffentlichten "Raise The Red Flag", das Industrial-Härte lässig mit catchy Wave-Melodien verwebt. Es hilft sicherlich auch, dass Sharone hier für einmal einen etwas komplexeren Beat auffährt. Ein Highlight der Platte.

Überhaupt haben die Label-Verantwortlichen mit den Singles ein gutes Händchen bewiesen, was sich an "As Sick As The Secrets Within" zeigt: Die Midtempo-Nummer gefällt mit einer wundervoll schauerlichen Atmosphäre. Der Pre-Chorus und Refrain gehören dank Mansons starker Gesangsleistung zu den besten Momenten des Albums und verfolgen einen noch Stunden später. Die Lyrics lassen sich als selbstkritische Auseinandersetzung mit Suchtproblemen interpretieren (Manson soll seit einigen Jahren komplett clean und trocken sein). Hätte sich auch auf "We Are Chaos" wacker geschlagen.

In der Albummitte ist damit der erste wirkliche Treffer zu verbuchen, geht doch. Die Wende? Leider nicht: Während das leichtfüßige "Sacrilegious" unaufdringlich vor sich hin pluckert, verfestigt sich der Eindruck, dass "One Assassination ..." kaum als neuer Klassiker in die Diskographie eingehen wird. An Manson, der hier inspiriert zwischen seinem unheilvollen Flüstern und einer schönen Gesangslinie changiert, liegt das nicht einmal. Ohnehin legt er auf dem Album zumeist eine formidable Gesangsform an den Tag, wenngleich das andauernde Suhlen in der Opferrolle wirklich grenzwertig ist. Es sind vielmehr die Arrangements, die selten zünden.

"Death Is Not A Costume" schleppt sich erschreckend blutleer aus den Boxen. Wäre da kein nett rollender Basslauf, der Song käme womöglich gar nicht vom Fleck. Auch das schon erwähnte "Meet Me In Purgatory" cruist im Standgas vorbei und lässt höchstens im Refrain mit 80ies-Synthies etwas Charme aufblitzen. Es ist lange her, dass mich ein Manson-Album so gelangweilt hat. Erinnerungen an das durchzogene "The High End Of Low" kommen auf. Den ruhigen Tracks fehlt es oftmals an interessanten Momenten oder Widerhaken, die aus der Gleichförmigkeit herausragen. Den aggressiven Parts wiederum fehlt der Biss.

Es ist aber auch nicht alles schlecht. Das (wiederum) langsame und ruhige "Sacrifice Of The Mass" beschließt die Platte mit einer Glanznote. Die sachte Gitarrenmelodie und der relaxte Beat bilden ein schönes Fundament, einem Filmscore nicht unähnlich, auf dem sich Manson melodramatisch ausbreiten kann. Er trauert seinen verstorbenen Eltern nach, deren Support er sich in den letzten Jahren wohl gewünscht hätte, und sinniert über die eigene Vergänglichkeit: "Mother can't mourn me / Father won't win my fights (...) They're waiting with open arms / For me to join them". Hat was.

Ans Ende denkt hier natürlich niemand, dafür bürgt das trotzig an den Albumtitel angehängte "Chapter 1" genauso wie die ausverkauften Konzerte der laufenden Tournee. Wiederauferstehung passt ja durchaus ins Konzept des Mr. Manson. Als er sich letztmals in einem vergleichbaren Karrieretief befand, antwortete er mit dem Befreiungsschlag "Holy Wood": einem musikalisch wie lyrisch vielschichtigen Konzeptalbum, das jede Tür eintreten wollte. Über zwei Dekaden später wirkt es mit "One Assassination Under God – Chapter 1" eher so, als wolle sich Manson klammheimlich in die Öffentlichkeit zurückschleichen. Mal sehen, wen er so zurückgewinnen kann.

Trackliste

  1. 1. One Assassination Under God
  2. 2. No Funeral Without Applause
  3. 3. Nod If You Understand
  4. 4. As Sick As The Secrets Within
  5. 5. Sacrilegious
  6. 6. Death Is Not A Costume
  7. 7. Meet Me In Purgatory
  8. 8. Raise The Red Flag
  9. 9. Sacrifice Of The Mass

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17 Kommentare mit 18 Antworten

  • Vor einem Monat

    ich finde die Review in Ordnung. 2-3 Punkte würde ich sagen. Ich finde es gut, dass hier nicht aussschließlich nach privater reputation argumentiert wird, sonder tatsächlich auf die musik eingegangen wird und der autor scheinbar die discografie des artists kennt.

    was ich nicht verstehe ist warum the pale emperor 2/5 bekommen hat. für mich ist das so das highlight seiner späten karrier. ein stimmiges album

  • Vor einem Monat

    Dieser Kommentar wurde vor einem Monat durch den Autor entfernt.

  • Vor einem Monat

    Ich hätte glaube ich drei Punkte gegeben, aber die Review geht schon in Ordnung. Auf mich wirkt das Album wie ein Mix seiner bisherigen Stile – für jeden irgendwie etwas dabei, aber insgesamt etwas zusammengewürfelt, uninspiriert und in seiner Gänze eben nur Mittelmaß.

    Hätte mir was mutigeres gewünscht.