laut.de-Kritik
Kunst ist Chef – um jeden Preis.
Review von Maximilian FritzDJ Hell erstürmt erneut das Feuilleton. Dieses mal so sehr mit Ansage wie selten zuvor. Als Partner hat er sich nämlich den Hamburger Künstler Jonathan Meese ins Boot geholt – und für so manchen Track auch dessen 91-jährige Mutter Brigitte.
Die Ausgangslage wirkt also gewollt und ambitioniert gleichermaßen. Um so mehr erstaunt der Opener "Dr. No", der weder musikalisch noch textlich die große Offenbarung sucht. Ein Hellischer Beat aus der Dunkelkammer samt unheimlicher Synths unterlegt darauf Meeses manischen, sabbernden Sermon um die Rückkehr des Dr. No. Das zieht sich knapp zehn Minuten, an deren Ende bereits eines klar ist: Die künstlerisch-musikalische Erleuchtung suchen beide nicht, vielmehr die augenzwinkernde Geborgenheit der Kunst selbst.
Diesen Eindruck untermauert auch "Notwendigkeit", wo Messe zu Hells geradem Four-To-The-Floor-Beat propagiert: "Kunst kann alles. Kunst kann alles." Dazu diabolisches Lachen und das Postulat "Gesamtkunstwerk Deutschland", schon hat Meese den Bezug zu seinem künstlerischen Schaffen, das ohne die Nazis und ihre Götzengestalt Hitler nicht denkbar wäre, hergestellt.
"Habe keine Angst", gewissermaßen der Titeltrack, klingt "Dr. No" nicht unähnlich, Meese wiederholt allerdings ein gänzlich neues Mantra. Er selbst verkörpert dabei die Angst des imaginierten Gegenübers, Hell begnügt sich mit stoischen Loops. Wo der Opener aber noch in Nuancen variierte, wiederholen sich hier Musik und Text fast durchgehend. Eine ausufernde Geduldprobe, der sich nur die kunstgläubigsten Ritter der Tafelrunde unterziehen.
Mitten in sonische Sphären der 2000er entführt Hell auf dem fein produzierten "Motherdance", das Maschinenfunk und Electroclash zusammendenkt. Die stark verzerrte Line "Tanz die Mutter" scheint fast bewusst eingestreut, um spätere, von Meese in der Groove tatsächlich höchstselbst gezogene DAF-Vergleiche zu rechtfertigen. Wo Gabi Delgado und Robert Görl noch den Adolf Hitler oder den Mussolini tanzen durften, ist es nun eben die Mutter. "Das ist das Ende vom Lied", bremst ebenjene ihren Sprössling am Ende aus.
Mehr Raum gönnt sie sich im unheilvollen "Power of Love", das Assoziationen mit Frankie Goes To Hollywoods Welterfolg schnell verwirft. Apropos: Auch Brigitte Meeses Sprachgesang funktioniert assoziativ, Sätze werden flugs umgedreht, das große Nichts bleibt stets Alternative Nummer eins.
"Erzliebe" zitiert im Anschluss relativ klar Portisheads "Roads" und fungiert sozusagen als die Ballade der LP, die Brigitte Meese abermals alleine bestreitet. Später mischen sich gar noch Streicher in den Mix.
Eine Nummer später bekommt Hell dann genug Platz, um einen Track nach seinem Gusto zu entwicklen. Die Drum Machine paart sich mit organischen Bass-Strings, "In diesen Zeiten müssen wir streiten" räsoniert Meese schließlich am Klimax durchs Effektgerät. Wahr, angesichts der thematisch doch diversen wie entrückten LP aber vielleicht etwas dick aufgetragen – ebenso übrigens wie Choräle auf "Trommeln", das ansonsten aber durchaus groovt.
Die tatsächliche Botschaft des Albums – auch und wohl besonders in diesen Zeiten – prügeln gleich mehrere Meeses aus der Echokammer in "Kunst ist Chef" in den Gehörgang. Dem ist kaum etwas hinzuzufügen, weil sich dadurch die Stellung der Sinnfrage erübrigt.
Dieses Album funktioniert oder funktioniert nicht, seine Tracks und Lyrics rufen Verdruss, Häme und avantgardistische Schnappatmung hervor. 3Sat-Zuschauer*innen springen womöglich begeistert auf, während in der Existenz bedrohte Künstler*innen bei allem Kunstvertrauen einsehen müssen, dass ihre Leidenschaft sie nicht zu ernähren vermag. "Atem" vertieft die Botschaft aus "Kunst ist Chef" zärtlich.
Ob etwas aber als Kunst bezeichnet wird, hängt zuvorderst noch immer von ihrem*r Erzeuger*in ab. So demokratisch das eigene Verständnis ebendieser auch sein mag. Und wenn als Backup noch jemand wie Daniel Richter fürs Design zuständig ist, bekommt man eine Vorstellung davon, von welchem Plateau aus dieses Album in verwertungslogische Zusammenhänge entlassen wird. Das Schlusslied "Liebestun", ein 13-minütiger Disput zwischen Jonathan und Brigitte Meese, könnte sich so jedenfalls kaum jemand leisten.
1 Kommentar mit einer Antwort
Nein, hier springt ganz sicher niemand begeistert auf. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer und deutsche Dada Texte mit analogen Beats auch noch keine Kunst.
Dieses extrem bemüht wirkende Konstrukt ist von der Einzigartigkeit der offensichtlichen Vorbilder DAF ungefähr so weit entfernt wie Berlin von Bayreuth.
Traurig, dass das von jemandem kommt, der immerhin mal den Electroclash erfunden hat.
Bin da bei der "augenzwinkernden Geborgenheit" des Rezensenten. Das können die doch unmöglich ernst meinen XD