laut.de-Kritik
Perfekte Postpunk-Dienstleister.
Review von Michael SchuhEndlich wird der Traum wahr, ein Live-Album von New Order! Das war absolut überfällig, schließlich ist es jetzt schon zwei Jahre still geblieben um die britischen Indie-Legenden, seit sie zuletzt, nun ja, ein Live-Album veröffentlicht haben. Und nochmal sechs Jahre davor erschien ein weiteres Live-Album - ja, man könnte glatt den Eindruck bekommen, hier würde sich eine Gruppe ausschließlich über Auftritte vor Publikum definieren.
Wahrscheinlicher ist leider, dass Bernard Sumner und Co. mit all diesen Dokumenten sämtliche noch existierenden Restzweifel ausräumen wollen, dass der stilprägende Ex-Bassist Peter Hook noch in irgendeiner Form von irgend jemandem vermisst wird - als letztes jedenfalls vonseiten der Band selbst.
Man ist nun in einem gewissen Alter, auch der Titel "Education Entertainment Recreation" riecht etwas streng nach Popakademie-Claim und einem Werbespruch für Intervallfasten. Aber darauf kommt es auch nicht an. Es ist Pandemie, außer Streaming und Tonkonserve gibt es für Künstler*innen nichts zu verdienen, daher erscheint vorliegender Live-Auftritt vom 9. November 2018 in den Formaten Doppel-CD, Doppel-CD plus BluRay-Film, drei Vinyl-LPs und einer Limited-Edition-Box mit einem Buch und Kunstdrucken. Die Band sieht es naturgemäß ein wenig anders: Es war ihre einzige UK-Show in 2018 - klar, dass die veröffentlicht werden muss, oder? Klar!
Wie man zahlreichen Reviews in diesem Magazin entnehmen kann, bin ich grundsätzlich großer Anhänger dieser Band, es läge mir fern, das musikalische Vermächtnis von New Order mit Dreck zu bewerfen, nicht einmal im endlosen Streitfall Hook/New Order sympathisiere ich mit einer Position. Nach drei Live-Alben stellt sich mir aber doch unweigerlich die Frage, die neulich auch bei der Euro 2020-Eröffnungsfeier aufpoppte, als The Edge mit Gitarre neben Martin Garrix herum turnte, obwohl niemand eine Gitarre hörte, bevor als "virtuelle Sensation" (UEFA) Bonos Gesicht durch die Gegend flog: Muss das wirklich sein? Und was haben diese Typen noch mal mit den Musikern zu tun, die vor Jahrzehnten Geschichte geschrieben haben?
Zumindest sind New Order mittlerweile echte Dienstleister. Sie wissen genau, dass niemand die aktuellen Songs hören möchte, also werden diese im Set auf ein Minimum reduziert. Sie wissen, dass die großen Hits kommen müssen, aber auch die von Joy Division und dass es auch ein kleines Nerd-Publikum für rare Album-Cuts gibt. Doch wie das mit routinierten Dienstleistern eben so ist, gerät das alles schnell langweilig.
Das ohnehin eher redundante "Singularity" zerstört mit holprigem Basslauf sogleich die Atmosphäre des herrlich abgehobenen Wagner-Intros, auf das eigentlich nur das gesalbte "Atmosphere" folgen kann. "Regret" reißt das Ruder herum, ein astreines Pop-Juwel, an das kein Song auf "Music Complete" heranreicht - hier mit Verve vorgetragen. Auch "Ultraviolence" von "Power, Corruption And Lies" geht in Ordnung, ein körniges Stück ohne Refrain aus ihrer experimentellen Findungsphase, "sounds a lot better than it did in the old days", befindet Sumner anschließend zufrieden und da mag man ihm - gerade in Kenntnis diverser Bootlegs der 80er - nicht widersprechen.
Dagegen muss man nur den Beginn von "Disorder" hören, um sich zu erinnern, weshalb New Order überhaupt erst bekannt geworden sind: Wegen der Basslines von Peter Hook. Die Band hieß damals freilich noch Joy Division, statt Pop spielte man Postpunk. Dass Sumner die Strenge des Originalsängers nicht erreicht, geschenkt, oder wer würde sich über "Smells Like Teen Spirit" auf einem Foo Fighters-Gig beschweren?
Ansonsten: Das magische "Crystal" von "Get Ready" rumpelt einfach so an einem vorbei, tragisch. "Waiting For The Sirens' Call" pressen sie in eine höhepunktarme Extended Version und in "True Faith" klingt Sumner, als stünde er unter der Dusche. Auch das leider eine Konstante bei New-Order-Liveplatten. Gegen "Your Silent Face" in einer Sechs-Minuten-Version oder das selten bis nie gespielte Joy Division-Stück "Decades" von "Closer" lassen sich wiederum nur schwer Gegenargumente aufbringen.
Dennoch würde ich am Ende "(No,12k,Lg,17Mif) New Order + Liam Gillick" als Liveplatte vorziehen, auch wenn "The Perfect Kiss" und "Bizarre Love Triangle" dann doch sehr viel Lust auf ein New-Order-Konzert machen, vor allem auf einer Kombi-Tour mit den Pet Shop Boys. Die soll aber nach wie vor nur in Amerika stattfinden.
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