laut.de-Kritik
Gothic-Requiem für Ian Curtis.
Review von Ulf KubankeEin Album in Moll: Charakteristische, mitunter schneidige Düstergitarren, bleiern rollender Bass samt monotonen Drums schnüren bereits in den ersten Takten von "Dreams Never End" ein trauerbeflortes Päckchen hervorragenden Gothic Rocks. "A fractured smile that soon dies!" Dieses ersterbende Lächeln markiert das hier dominierende Grundgefühl. Peter Hooks in sepia getauchte Stimme verkündet den Beginn eines acht Lieder währenden Requiems ohne Hoffnungsschimmer, doch ebenso ohne Pathos oder Weinerlichkeit. So hebt sich Ende 1981 mit "Movement" der schwarze Vorhang ein letztes Mal für den finalen Akt der Joy Division.
New Orders Debüt eine Joy Division-Platte?
Nein!
Doch!
Oh!
"Nein!", weil zuvor eine fundamentale Erschütterung erfolgte, eine Amputation durch Ian Curtis Freitod im Mai 1980, nach der für die Band nichts mehr sein sollte, wie es war. Es gab den eisernen Schwur, wonach der Name Joy Division ausschließlich in kompletter Besetzung Gültigkeit habe. So häutet sich die Schlange und reinkariert als New Order. Frisch an Bord befindet sich Gilian Gilbert, ihres Zeichen Gattin von Drummer Stephen Morris und fortan sowohl Keyboarderin als auch Gitarristin.
"Doch!", weil die Zäsur rein musikalisch betrachtet auf "Movement" kaum mehr als eine Formalie bedeutet. Zwar klingen die Synthies eine Spur selbstbewusster als zuvor. Ansonsten bildet dieser Erstling eine erstaunliche Kontinuität zu Joy Divisions Meilensteinen "Unknown Pleasures"/"Closer". Noch führt keine Spur zum späteren Synthie-Fetisch. Noch gibt es keinerlei Hinweise auf polierten - beinahe seichten - Pullunderpop à la "Techniqe","Republic" oder "True Faith". Seitenscheitelgesang in Club-Dekadenz gibt es später. "Movement" hingegen bleibt Note für Note ewiger Karfreitag, ewiges Hadern, ewige Narbe.
Die emotionale wie stilistische Authentizität dieses letzten JD-Kapitels fährt dem Hörer durch Mark und Bein. Kein Zufall! Die verbliebenen Mitglieder orientierten sich in Komposition und Arrangement bewusst an der Frage, wie Ian die Stücke gedeutet hätte. Dadurch bilden sie eine charismatische Mixtur aus Nachhall, Verlust und Wiedergeburt. Auch Gilbert ist keine Fremde im Reigen. Sie spielte mehrfach live mit bzw. bei Joy Division.
Als Zünglein an der Waage glänzt Produzent Martin Hannett. Er erfand und prägte den Joy Division-Sound entscheidend mit (daneben u.a. auch jenen der befreundeten Durutti Column oder der frühen Psychedelic Furs). Zwar verlief ihre letztmalige gemeinsame Arbeit hier eher schwierig und blieb nicht ohne Konflikte. Dies lag besonders an seiner Drogensucht, die ihn 1991 das Leben kostete. Gleichwohl spürt man sein formendes Händchen besonders deutlich in Tracks wie "ICB", das für "Ian Curtis Buried" steht. Ebene jene spartanische Postpunk-Ästhetik zieht sich durch diese LP wie durch Hannetts gesamten, formidablen Katalog.
Sogar die Vocals von Hooky (zwei Songs) und Sumner (sechs Songs) orientieren sich bewusst an jener schroffen Unterkühlung, die Curtis per Stimme stets transportierte. Vor allem Sumner, der später eine weiche, eher warme Klangfarbe in seinem Gesang kultiviert, liefert hier eine derbe, zerquälte Vorstellung ab.
"Oh!" fügt sich als Fazit hinzu, da "Movement" sich musikhistorisch zwischen alle Stühle setzte. Fans, die an New Order besonders ihre elektronischen Elemente, das (Indie-)Popstartum sowie die klanglich höchst dekorative Seite schätzen, zeigen sich oft eher irritiert denn beeindruckt. Auf der anderen Seite nehmen viele Freunde der Kategorie Joy Division, Bauhaus, frühe Cure dieses Kleinod oft nicht gebührend wahr, obwohl es in eben diesem Kanon einen Ehrenplatz verdient. Zumal alle Bandmitglieder sich bis heute – wenn auch sonst in nicht mehr vielen Dingen – darin einig sind, dass ohne diesen dunklen Tunnel die Katharsis gen "Blue Monday" und Co nie hätte erfolgen können.
Wer sich nunmehr dieses bedeutenden Stückchens Historie widmen möchte, steht vor einem nicht gerade übersichtlichen Sammelsurium diverser Editionen. Als Knaller für totale Fans, die gern tief in ihre Tasche greifen, bietet sich das jüngst erschienene Boxset der "Definitive Edition" an. Ein glasklares 2019-Remaster, LP-Version, CD-Version mit niedlich nachgestelltem Artwork, unveröffentlichte Demoversionen sowie eine DVD mit u.a. frühen Auftritten sorgt auf den ersten Blick für leuchtende Augen. Für den schmaleren Geldbeutel gibt es die entschlackte MP3-Variante im attraktiven 26-Song-Format.
Bei genauerer Betrachtung hat die aktuelle Version jedoch einen nicht unerheblichen Pferdefuß. Eine bereits seit 2008 erhältliche Fassung ist dem Remaster in punkto Hörqualität nahezu ebenbürtig. Die 2019er Demos bieten – vielleicht mit Ausnahme des ersten "Ceremony"- Mixes – jenseits von Geschichtsträchtigkeit keinerlei audiophilen Mehrwert. Dafür verzichtete man leider auf die Beilage der wichtigen Non-LP-Singles "Ceremony", "Procession", "Everything's Gone Green" und "Temptation", um diese stattdessen umständlich als separate Häppchen zu veröffentlichen.
Auf der gut zehn Jahre alten Ausgabe sind diese "Movement" flankierenden Auskopplungen jedoch löblicherweise als kundenfreundlicher Bonus enthalten, wodurch das künstlerische Bild dieser Übergangsphase erheblich runder und umfassender wirkt. So gibt es schlussendlich bis heute weder ein echtes Komplettpaket, noch bleibt die Qual der Wahl erspart. Doch wie heißt es auf "Movement" so treffend: "We'll taste and see!"
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