In ihrem Debüt-Roman skizzieren die Musiker von Tocotronic bzw. Herrenmagazin eine Coming of Age-Story im Hamburg der Neunziger.

Hamburg (rnk) - Gute Zeiten für Tocotronic-Fans mit Literaturfaible. Eine umfassende Band-Chronik, die herrlich schräge Halb-Autobiografie von Dirk von Lowtzow, eine Comic-Interpretation diverser Songtexte und ein Webcomic von Arne Zank. Nach Sänger und Schlagzeuger zieht nun auch Bassist Jan Müller nach und veröffentlicht in Zusammenarbeit mit Rasmus Engler (Herrenmagazin, Das Bierbeben) den Debüt-Roman "Vorglühen".

Der Ort Hamburg und der zeitliche Rahmen in den Neunzigern seien nicht zwingend autobiografisch zu verstehen, erzählten die beiden Musiker dazu im laut.de-Interview. "Kein Schlüsselroman, sondern ein Lebensgefühl", so steht es noch ergänzend im Pressetext. Nun, immerhin spielten oder lebten die beiden in dieser Zeit in dem hanseatischen Stadtstaat, was den Beschreibungen aus dem Proberaum und vom Kiez noch zusätzlich Authentizität verleiht.

Der Plan, als man nach Hamburg kam

Die Ausgangslage der Hauptfigur Albert bietet jedenfalls von Anfang an Identifikations-Potential. Albert flüchtet aus der Provinz, weg von den Schützenfesten, der Engstirnigkeit der oberbergischen Dorfbewohner und wahrscheinlich auch vor Fahrradfahrern. Viele Möglichkeiten bleiben eh nicht: Aus Bequemlichkeit dort bleiben, sich müde dem Schicksal ergeben oder die nächste Chance und einen Studienplatz im Sehnsuchtsort Großstadt ergreifen. Und doch landet Albert, wie viele andere Neuankömmlinge auch, erst mal orientierungslos im Haifischbecken Hamburg.

Und so sehr man Daheimgebliebenen aufgeregt von Berlin, Hamburg oder Köln vorschwärmt, gerade zu Beginn bleibt doch einzig die selbst abgesteckte Sicherheitszone. Oder wie es ein Neu-Kumpel, den Albert auf einem Konzert der Sludge-Band Würm trifft, ziemlich präzise beschreibt "Aber jeder, der hier herzieht, ohne Leute zu kennen, landet erst mal in einer völlig absurden Ecke der Stadt (...) Hamburg ist einfach nur St.Pauli, Schanze, Altona, der Rest ist Dorf." Oder wie es Kettcar ausführten: "Als man ankam, wollte man werden / Die Geschichte schreiben / Die Doofen sollen sterben. Der Plan, als man damals nach Hamburg kam".

Als Rettungsanker fungieren Konzerte und Comciläden, dort trifft Albert im Gegensatz zur Uni auf Gleichgesinnte. Hier tummelt sich, was in Hamburg die Außenseiterrolle zugewiesen bekommt oder diese freiwillig gewählt hat. Menschen mit Idealen und Plänen, deren Zielen sich ständig ändern. Irgendwas starten, egal was. Destination unbekannt. "Vorglühen" fängt in der Tat dieses adoleszente Gefühl ein, als Leidenschaft immer über Vernunft siegte. Wohl dem, der dieses Glühen auch heute noch in sich trägt.

Alf ist alleine, und er weiß es

Eine Band gründen, scheint da schon mal det richtige Schritt zu sein. Albert und seine Freunde mieten sich in einem siffigen Proberaum ein, der aber fast mehr zum gemeinsamen Umtrunk und herrlichen Gesprächen über Kindheitsidole genutzt wird. Alf, einst der knuffige Alien-Proll aus den Achtzigern, bekommt in messerscharfer Analyse attestiert, doch irgendwie ein unangehmer Kerl zu sein. Sein trübes Schicksal, dann doch wieder einer spießigen Mittelschicht-Familie ausgeliefert zu sein, erregt aber schon fast wieder Sympathie: Der großnäsige Außerirdische ist im Herzen doch wieder ein Seelenverwandter, der im Mikrokosmos seinen Platz sucht. Oder der andere Exilant E.T., der nach Hause telefonieren möchte.

Albert möchte das eigentlich nicht, aber so ab und zu muss eben ein Signal in Richtung Heimatplanet gesandt werden: Aus einer siffigen Telefonzelle und mit ausreichend Münzen - Handy gab es damals noch keine oder selten. Die Gespräche mit den Erwachsenen kommen einem so vertraut vor. Vorwürfe und Sorgen plagen die ehemaligen Erziehungsberechtigten, von denen man gerade zu Anfang doch immer noch abhängig bleibt. So völlig schwerelos von allen weltlichen Zwängen zu sein, bleibt eine jugendliche Illusion.

Was macht ihr denn für Sachen?

Also weiter proben und schauen, dass es doch irgendwie mit dem Plan klappt. Indie oder doch in die Charts, das wird erst einmal in verschiedenen Diskussionen und Streitigkeiten verhandelt. Und doch muss sich etwas ändern. Alles bleibt im Unklaren. Auch Diana, die Comic-Verkäuferin und Frau seines Herzens, ist irgendwie Fast-Freundin, aber entzieht sich auch wieder seinen ungelenken Avancen. Trotzdem offenbaren alle Charaktere im Verlauf des Romans immer mehr Facetten.

Das schwierige Verhältnis zur schroffen Vermieterin Frau Balsac etwa erfährt eine Wendung, und auch das anfangs so komplizierte Hamburg entwickelt sich über Umwege doch zum Hafen für Albert. Das Bild der liebenswerten Trottel und toughen Frauen mag manchmal etwas klischeehaft wirken. Eine ebenfalls fiktive Rrriot-Girl-Band im Proberaum nebenan nimmt dann aber die musikalische Änderung im Jungs-Kosmos vorweg. Der Geist von L7, Team Dresch und Bikini Kill ging auch in Deutschland um und führte zur Gründung der "Lassie Singers" und "Die Braut Haut Ins Auge".

Ich werde nie wieder alleine sein

"Vorglühen" verfolgt nicht den Weg von Dirk von Lowtzow, der gerne im Unklaren, Ironischen und Metaphorischen bleibt. Die Figuren von Rasmus und Jan bleiben bodenständig in der Realität verhaftet und trotz kleinerer Frotzleien liebenswert. Das Buch lässt sich trotz 378 Seiten (Ullstein Verlag, Hardcover) gut lesen und braucht nicht viel Pop-Backgroundwissen, da die Außenseiter-Story in St.Pauli grundsätzlich und universell in jede Zeit passt. So vermeiden die beiden Autoren auch, dass ihre liebevolle Hommage doch nur die eigenen Fans oder Menschen über 40 anspricht. Ihre Bands und Erfahrungen waren sicherlich Inspiration, aber bilden wie St. Pauli doch eher ein Hintergrundrauschen. Am Ende retten Freundschaft und Loyalität alle vor dem Untergehen respektive Verglühen in einer bedrohlichen Umgebung.

Für den Musikexpress lief Jan Müller übrigens noch einmal die Stationen seiner Jugend ab. Viele Orte fielen der Gentrifizierung zum Opfer oder wurden aufgehübscht. Den schrottigen Charme von früher bewahrt "Vorglühen" zwar teilweise. Gleichwohl ging schon in den Neunzigern viel vom aufregenden Punk-Spirit in konsensfähige Rock-Klischees über.

Nach dem "Vorglühen" in den Jahren 1991 bis 1994 folgte ein Jahr später die Initialzündung, die für eine kurze Zeit doch wieder einen Funken Spannung in die deutsche Musikszene brachte und unserer Teenager-Desillusion Ausdruck verlieh. Wir waren nun nicht mehr alleine im Nicht-Verstanden-Werden und unserer Verletzlichkeit. Wer übrigens nach "Vorglühen" noch nicht genug hat, dem sei noch der Tocotronic-Roman "Wochenendticket" von Johannes Hesse oder "Wir könnten Freunde werden" von Thees Uhlmann empfohlen.

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Jan Müller + Rasmus Engler - "Vorglühen"*

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2 Kommentare

  • Vor einem Jahr

    Nicht gelesen, aber allein das Konzept klingt wie ein Lauer Heinz Strunk Aufguss

  • Vor einem Jahr

    Hab mir das Buch nach der Besprechung hier zugelegt und wurde nicht enttäuscht. Für einen Debütroman echt nicht schlecht. "Vorglühen" ist zwar in Teilen vorhersehbar und überraschungsarm (und enthält den ein oder anderen "Boomermoment"), fängt aber auch einen ganz bestimmten Vibe ein und macht Spaß zu lesen. Auch für einen Mittzwanziger, der mit den 90ern nichts am Hut hat und das Jahrzehnt nur aus Erzählungen und der Popkultur kennt (me).