laut.de-Kritik
Mitreißende Stücke aus der Dokumentation.
Review von Giuliano BenassiDas musikalische Ereignis im Sommer 1969 war das Woodstock-Festival. Oder vielleicht doch nicht? Während Hunderttausende im Stau standen und sich im Schlamm suhlten, um viele der angesagtesten Künstler jener Zeit auf einem Gelände nördlich von New York zu erleben, fand im Herzen der Stadt das Harlem Cultural Festival statt. Das eine ist als generationsdefinierender Mythos in die Geschichtsbücher eingegangen, das andere geriet in Vergessenheit. Zumindest, bis Ahmir Thompson alias Questlove mit Aufnahmen aus den Archiven die preisgekrönte Dokumentation "Summer Of Soul" schuf, die 2021 in die Kinos kam.
Über die Gründe dieser Ungleichbehandlung wurde in den USA heftig debattiert. Ob es nun tatsächlich Absicht war, die Bänder aus Harlem in einem Keller verschwinden zu lassen oder eher eine Verkettung unglücklicher und geschäftlicher Umstände, werden wir an dieser Stelle nicht klären. Fest steht, dass sich beim Thema "kaukasisch vs. afroamerikanisch" in den letzten 50+ Jahren erschreckend wenig getan hat. Und dass die Fronten verhärtet scheinen wie eh und je.
Widmen wir uns also der Musik, denn die Künstler und ihre Auftritte waren außerordentlich. Im Gegensatz zu Woodstock, das sich über drei zusammenhängende Tage erstreckte, war das Harlem Cultural Festival ("Summer Of Soul" ist nur der Filmtitel) eine Serie an sechs Veranstaltungen im Mount Morris Park (seit 1973 Marcus Garvey Park) zwischen Ende Juni und Ende August. Harlem hat zwar vorwiegend afroamerikanische Einwohner, das Festival bot aber auch Künstler anderer Herkunft und Hautfarbe. Und nicht nur Soul, denn es waren auch viele andere Genres vertreten.
Los geht es mit dem Soul der Chamber Brothers, die nicht ihren größten Hit spielten ("Time Has Come Today") sondern "Uptown" aus der Feder von Miles Davis' Frau Betty, eine Hommage an New York im allgemeinen und Harlem im Besonderen. Und dazu noch an Betty selbst, die zwei Wochen nach der Veröffentlichung dieser CD gestorben ist. Eingeführt werden sie von Tony Lawrence, dem Organisator des Festivals, der im Laufe des Albums mit viel Begeisterung die Bands präsentiert.
Einer der größten Namen ist B.B. King, der wie gewohnt nach Chicago klingt, sich hier aber von Bläsern begleiten lässt. Ganz anders The 5th Dimension, die mit "Aquarius / Let The Sunshine In" den wohl größten Hit des Jahres am Start haben (sechs Wochen auf Platz eins), ein Auszug aus dem noch jungen Broadway-Musical und späteren Kinofilm "Hair". Bereits fünf Jahre alt, aber nicht weniger erfolgreich war David Ruffin mit "My Girl", das er ursprünglich mit den Temptations aufgenommen hatte.
Den intensivsten Moment bieten "The Operation Breadbasket Orchestra & Choir", ein umständlicher Name für eine Gospelgruppe, die mit Mahalia Jackson und Mavis Staples in gerade mal neun Minuten etwas aufführen, das wie Teufelsaustreibung und Bekehrung in einem klingt. Wahnsinn, dass die ehrwürdigen Damen nach solch einem Einsatz jemals wieder singen konnten.
Etwas aus der Reihe tanzt Herbie Mann, New Yorker, weiß und Jude, der als einer der Vorreiter der Weltmusik gilt, was sein Auftritt bei diesem Festival zeigt. Der Kubaner Mongo Santamaria bringt mit seinem größten Hit "Watermelon Man" von 1963, der allerdings von Herbie Hancock stammt, die Zuschauer zum Tanzen, wie auch Sly & The Family Stone, die in jenem Jahr auch in Woodstock auftraten.
Die letzten zwei Stücke stammen von der großartigen Nina Simone, die hier einen denkwürdigen Auftritt hat. Während die Staple Singers und Ray Barretto versuchten, die Spannungen um Hautfarbe und Chancenungleichheit mit einer Liebesbotschaft zu entschärfen, zeigt sie ihre damalige Nähe zu den Black Panthers und rezitiert zum Abschluss "Are You Ready" des Dichters David Nelson. "Are you ready to kill if necessary? Are you ready to create life? Are you ready to smash white things? Are you ready to build black things?", so der ursprüngliche Text, den sie leicht abändert und mit Bongobegleitung darbietet. Die Zuschauer reagieren begeistert, revolutionäre Wut ist aber nicht zu spüren. Eher die Freude, eine der charismatischten Künstlerinnen aller Zeiten zu erleben.
Die Soundqualität ist ausgesprochen gut. Questlove setzt sich im Booklet mit dem Thema ausführlich auseinander. Auf der Bühne standen 15 Mikrofone, was sich erst mal nach viel anhört. Seine Band The Roots verwenden jedoch bei Auftritten 96, trotzdem habe er am Sound nichts verändert, denn "wer braucht ein perfektes Ergebnis? Oder besser: Wer glaubt, dass ein perfektes Ergebnis tatsächlich perfekt ist?" Der Soundtrack habe den Geist der Veranstaltung eingefangen, und das sei doch viel wichtiger.
Recht hat er. Eine Stunde und 20 Minuten sind jedoch viel zu kurz, um diesem Festival Rechnung zu tragen, zumal einige Künstler, die dabei waren, hier gar nicht vertreten sind, etwa Stevie Wonder oder Hugh Masekela. Schön wäre es also, wenn noch eine erweiterte Fassung erschiene. Ganz so ausgiebig wie beim Woodstock-Festival braucht sie nicht zu sein: 2019 ist davon das "Definitive Anniversary Archive" auf den Markt gekommen, mit 432 Stücken auf 38 CDs.
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