laut.de-Kritik

Die Kunst zu übertreiben, ohne zu übertreiben.

Review von

Wenn man die Geschichte von Oscar Petersons "Night Train" verstehen will, gibt es zwei Ebenen. Zunächst ist da dieser Mann selbst. Der Riese mit den sagenumwoben großen Händen, dessen Anschlag am Klavier trotzdem filigran wie der keines Zweiten klingt. Er ist ein Virtuose und ein Genie, das zeigt sich dem Jungen aus Montreal schon früh, als seine Eltern ihn in den Klassikunterricht geben. Dort unterrichtet ihn ein Schüler von Liszt, und macht Peterson so schnell darauf aufmerksam, dass diese Szene todtraurig sein muss, dass er irgendwann Ragtime und den Blues entdeckt. Er ist neben Thelonious Monk, Duke Ellington und Keith Jarrett wahrscheinlich der Jazz-Pianist. Nicht nur einer der Krassesten, sondern auch einer der Beliebtesten.

Auch auf diesem Album bewährt sich seine Formel, berühmte Standards mit seinem Trio in radiotauglicher Single-Länge zu veröffentlichen. "Night Train" ist gewissermaßen eine Jazz-Virtuoso-Extravaganza, unterteilt in konsumierbare Häppchen und produziert von Norman Granz, der schon Musik von Louis Armstrong und Stan Getz zu reinem Ear Candy verwandelt hat.

Gleichzeitig - und das ist unser Zugriff von heute - kratzt zwar nichts an Petersons Größe, aber irgendwie steht er doch nicht mehr in der allerersten Reihe der Jazz-Musiker. Das hat einen Grund: So sehr er nämlich wirklich essentiell die Flamme des Genres in sich trug, war er weder ein großer Klangmaler noch ein großer Komponist. Er hat kein "Love Supreme", kein "Bitches Brew", kein "Sinner Lady" gemacht. Dabei altern gerade diese Alben, die inhärente Geschichten erzählen, die eine ganze eigene, kohärente Atmosphären beinhalten, so gut in die Gegenwart.

"Night Train" kommt dem am nächsten: ein Album mit Standards, seinem unverwechselbaren Stil und seiner reinen Spielwut, seiner Fähigkeit, musikalischen Exzess zu leisten, ohne jemals den Swagger des Genres zu übertreten. Es demonstriert Petersons Fähigkeit zu übertreiben, ohne zu übertreiben, die "Night Train" bis heute zu einem essentiellen Album macht. Man muss nicht einmal supergenau hinhören, es drängt sich quasi auf. Dieser Mann war der Zweitcoolste. Neben, nicht hinter Miles.

Erst einmal müssen wir aber den einen Ausnahme-Song auf "Night Train" ausklammern, der das Album gewissermaßen überflügelt, aber nicht ganz fair repräsentiert: "Hmyn To Freedom" heißt Petersons einzige eigene Komposition hier, sie schließt das Werk mit einem hymnischen Refrain ab, der Kirchenmusik und Gospel zu einem der erhebendsten Songs der Jazzgeschichte fusioniert. Näher kam Peterson seinem eigenen "Love Supreme" vielleicht nie als mit dieser kleinen Vignette einer Welt, in der er mehr definierende, experimentelle Platten gemacht hat statt zehn weitere "Oscar Peterson plays xyz"-Recordings. Der Song ist ein einziges Crescendo, er trieft vor Blues. Seine beiden Mitspieler Ray Brown und Ed Thigpen gehen dem Frontmann quasi aus dem Weg, der sich wie ein Derwisch in alle gute Gnade des Gospels aszendiert. Der Song, inspiriert von Martin Luther King Jr., wurde zu einem der Songs der Bürgerrechtsbewegung.

Was davor passiert, steht auf einem anderen Blatt. "Night Train" ist kein Album wie "Hymn For The Weekend". Auf eine gewisse Art und Weise ist es sogar das, was man neuen Jazzhörer*innen oft als Eindruck ausprügeln möchte: Es ist loungig. Darin besteht gewissermaßen das große Kunststück, das Peterson auch auf seinen Alben mit Stan Getz oder auf "Pastel Moods" vorführt: Für einen Spieler, der gewissermaßen ein Wüterich sein kann, hochkomplex und grandios, lässt es sich ihm sehr entspannt zuhören. Niemand außer ihm kann drei Trillionen triolisch gewälzte Noten prasseln lassen und die Hörer dabei an Understatement denken lassen. Aber es stimmt. das Cover fängt die Stimmung dieses Albums wunderbar ein. Das sieht nach kalter Nacht, Bewegung, Fernweh und Reiselust aus. Das bekommen wir, wenn auch nicht ganz so, wie man es sich zuerst vorstellt.

"Night Train", der Titeltrack, flackert wie ein Leuchten im Kellerfenster einer fremden Stadt. Trotz aller Blues-Anleihen ist die Musik nicht schmerzhaft oder rau, sie wirkt eher heimelig und warm. Es ist ein Lagerfeuer von einem Album, alle Verspieltheit und alle Tricks, zum Beispiel die sich wiederholenden kleinen Stöße derselben Note auf "C Jam Blues", sind ein einziges Es-sich-gemütlich-Machen. "Honey Dripper", ein zweiminütiges Aufflackern, birgt die Euphorie davon, wenn aus einem Zusammensitzen eine Party wird: Es hat eine unwiderstehliche Energie. Aber diese beflügelten Grooves und Melodien stammen aus den Händen vielgereister Männer. Hier muss man ausdrücklich allen Respekt an Thigpen und Brown geben, die mit einem stetigen, tragenden Bass und Hat-lastigen Drums die Subtilitäten der Gefühle differenzieren. Viel von der Wirkung des Albums kommt nämlich weniger über die Melodien, sondern über die oft und effektiv wechselnden Tempi. Die Songs sind kurz, die Stimmung geschäftig, die Reise-Intervalle übersichtlich.

So entpuppt sich doch noch eine kleine Geschichte, die sich in der Interpretation der Standards versteckt. Witzigerweise hat sie bereits ein berühmter Autor gefunden: Haruki Murakami hat in seinem Roman "East of the Border, West of the Sun" Unmengen an Verweisen auf Peterson versteckt. Es gibt eine Bar, die er nach einem seiner Songs "Robin's Nest" genannt hat. Dort greift er eben diese Loungigkeit Petersons auf: Musik, die man wunderbar im Hintergrund laufen lassen kann, der man zugestehen kann, dass die Drums tippel-tappel und der Bass wumm-wumm-wumm und die Keys düdelü machen. Es klingt stimmungsvoll, untermalt die Gespräche hard-boiled, die Dayquiris und den Zigarettenrauch. Die Balladen "Georiga On My Mind" oder "Thing's Aint What They Used To Be" spiegeln auch die Gespräche in seinem Buch: Kindheitsfreunde, die sich aus den Augen verloren haben, Eheleben, das erkaltet, Fernweh, das in Monotonie gebrandet ist. Eine absurde, kalte Welt, vor der man sich in eine warme, lauschige Bar flüchtet, und dazwischen diese kalten, hellblauen Verbindungslinien, über die der Wind zieht. Das Bild muss sich auftun, wenn man das Lodern und die Schwere von "I Got It Bad And That Ain't Good" hört.

Peterson ehrt auf "Night Train" die Macht des Standards und entzieht sich gewissermaßen bewusst dem Experiment, weil er an die fundamentale Kraft dieser Musik glaubt. Die fundamentale Kraft, einen Ort zu schaffen, der die Tristesse der Welt, die an den Türen des Clubs brandet, aussperrt und trotzdem einbezieht. Es ist ein bewusstes Sich-dagegen-Stellen. Die Melodien hier können euphorisch oder melancholisch sein, immerzu sind sie aber lebendig, feurig und beseelt. Selbst in seinen ruhigsten Momenten ist es fast unmöglich, das Genie von Peterson zu überhören.

Tatsächlich liegt sein Genie aber nicht darin, sehr viele Noten schnell und on time zu spielen. Sein Genie steckt nicht einmal in der Phrasierung oder dem Anschlag. Sein Genie bewirkt, dass er immerzu spielt, als glaube er an das, was er da tut. So ist es seine Vehemenz allein, die die Brücke von einem Haufen radiotauglicher Standards zu einem außergewöhnlichen Gospel-Ritual schlägt. Der Jazzclub und die Kirche, und das ist die Pointe hier, sind eine Bewegung und ein Ort für Peterson. "Night Train" ist ein Album des Ankommens.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Night Train
  2. 2. C Jam Blues
  3. 3. Georgia On My Mind
  4. 4. Bag's Groove
  5. 5. Moten Swing
  6. 6. Easy Does It
  7. 7. Honey Dripper
  8. 8. Things Ain't What They Used To Be
  9. 9. I Got It Bad And That Ain't Good
  10. 10. Band Call
  11. 11. Hymn To Freedom

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