laut.de-Kritik

Zu viel Plastik, zu wenig Herz.

Review von

"I remember a time when music had soul, when music had a conscience, when music had balls. Do you recall that at all or am I romanticizing the past?"
(Bill Hicks, Stand-Up Comedian, 1961-1994)

Man mag einwenden, dass Hicks das Ende der Fahnenstange nicht einmal erahnt haben kann. Er regte sich seinerzeit noch über Nik Kershaw und George Michael auf, die heutzutage wohl wiederum zu einer Vergangenheit gehören, die einer gewissen Romantisierung unterliegt. Es geht eben immer weiter, die Fahnenstange ragt fast endlos in die Lüfte wie die große Bohnenpflanze im Märchen. Wann die Zeit kommt, in der man sich an Paris Hilton mit verklärtem Blick als richtige Musikerin erinnert, steht in den Sternen. Aber glaubt mir, sie kommt.

Wenn man ähnliche Kriterien für Musik anlegt wie Hicks, wird man auch heute noch fündig werden und sich an rechtschaffener Musik erfreuen können, doch diese Seite des Spektrums hat nichts mit dem hier vorliegenden Album zu tun. Für "Paris" gelten völlig andere Maßstäbe - die des kalkulierten Mainstreampops. Auch wenn's schwer fällt: versuchen wir also gar nicht erst, zu moralisieren und dem Album seinen Existenzgrund vorzuwerfen, nämlich Mainstreampop zu sein, denn das wäre langweilig und unnötig. Hören wir stattdessen einfach an, was Paris Hilton uns auf ihrem Debütalbum kredenzt.

Und das klingt gar nicht mal so schlecht: Sauber produzierte Tracks, wummernde R'n'B-Grooves, die zum Bootyshaken einladen, und relaxter Sunshine Reggae fürs Bacardi-Feeling im Wohnzimmer. Diese Welt hat schon weitaus schlechtere Alben gehört. Kein Wunder, denn Paris Hilton hat Leute an Bord, die den Dreh raus haben.

Tony Maserati und Serban Ghenea sind an den Reglern keine unbedarften Anfänger, der eine ist Grammy-Gewinner und hat unter anderem mit den Black Eyed Peas gearbeitet, der andere war mit Justin Timberlake und Pink im Studio. Auch die Songwriter zeichnen für nahezu alle Acts verantwortlich, die im Pop derzeit etwas zu sagen haben. Sie produzieren Musik, wie andere formschöne Brötchen backen oder gewissenhaft Autos waschen. Der japanische Schriftsteller Haruki Murakami würde die Beteiligten wohl kulturelle Schneeschaufler nennen.

Es handelt sich eben nicht um dahergelaufene Schluder-Producer von Dieter-Bohlen-Format. Hilton hat clever gewählt. Keiner lässt sie im Regen stehen. Über ihre Qualitäten als Sängerin sagen die Songs nichts aus. Die meisten Passagen sind lasziv in mittleren Tonlagen gehaucht und werden immer wieder von gesprochenen Zweit- und Drittstimmen gedoppelt und gedreifacht. Mit einer kurzen Einweisung kann das wohl jeder leisten, der noch einen Kehlkopf besitzt. Das nennt man auf den Leib geschrieben, Songs die nicht groß fordern, bei denen es aber auch nicht sonderlich auffällt oder obendrein noch wichtig wäre.

"Turn It Up" rumst trocken und clubaffin, klingt modern und gleichzeitig ziemlich bekannt. Ein Song für den Moment nach Mitternacht, wenn das Kondenswasser allmählich von der Clubdecke tropft und vom Boden wieder unmittelbar als Dampf aufsteigt. Für "Fightin' Over Me", einem durchschnittlichen "alle Jungs stehen auf mich"-Langweiler, haben sich tatsächlich zwei Zechkumpanen des Party-Luders, Fat Joe und Jadakiss, hergegeben. Netter und vorhersehbarer Song.

Die Single "Stars are Blind" sticht heraus. Zum einen, was die Anleihen angeht, zum anderen, was den lockeren Reggae-Sound betrifft. Der Anfang der Strophe klingt schon unverschämt nach UB 40s "Kingston Town", dennoch ein recht hörbarer, luftiger Sommer-Sonnenschein-Radiotrack. Im Video kündigt sich ein mögliches weiteres Feld für die unternehmerischen Vorhaben Hiltons an: Irgendwie sieht sie im Halbprofil mit offenen Haaren aus wie Meryl Streep. Wie wär's mit einer Mutter-Tochter-Rolle? Das nur als Denkanstoß am Rande.

Tanzbar, poppig, ganz und gar nicht nervig. Das einzige, was man dem Album vorwerfen kann, ist seine gezielte Glätte und Mittelmäßigkeit, die Musik zwangsläufig langweilig und langatmig werden lässt. Es ist wie ein formschönes Stück Seife mit einer glänzenden Rosa-Samtschleife, die sich um eine durchsichtige Plastikverpackung rankt: Die Songs könnte jeder singen, genauso wie die Seife nach Lavendel oder Rosen duften könnte. Was ändert es, dass Paris Hilton nun persönlich die Zeilen haucht?

Einen ersten unumstrittenen Höhepunkt der Langeweile stellt der Song "Heartbeat" dar. Als hätten entweder die neunziger Jahre nicht stattgefunden oder aber die Songwriter sich an einer Synthie-Erotikfilmsoundkulisse der 80er vergangen, für die keine GEMA-Gebühren anfallen und zu der sich kein Komponist bekennt - also billig abzugeben. Puuh. Ein glatter Fehlschlag. Wie sich ein Song hinziehen kann.

Dann der finale Schock: Niemals hätte ich gedacht, dass ich das je artikulieren würde, aber: die Frage "Do Ya Think I'm Sexy" würde ich von Rod Stewarts Stimme gesungen eher mit Ja beantworten, als im vorliegenden Fall, wenn Paris es einfühlsam ins Mikro atmet. Ein gänzlich furchtbares Cover dieses ohnehin ganz schlimmen Liedes.

Dem Album fehlt es nicht an ganz annehmbarer Musik, dafür aber an Atmosphäre. Zu viel Plastik, zu wenig Herz. Wer's also mit seinen dreizehn Jahren nicht lassen kann, soll sich das Album ruhig kaufen. "Das Geld ist ja nicht weg, es hat nur ein anderer", würde Ingo Appelt sagen.

Denkt immer daran: Mit der gleichen inbrünstigen Überzeugung, mit der Paris Hilton hier singt, wird sie euch in spätestens drei Jahren eine Creme gegen Erwachsenenakne im Tele-Shop verkaufen. Garantiert. Sicher wird die auch ganz gut sein, ihr braucht sie dann vielleicht noch nicht, aber man kann sie ja lagern, im Vorteilspack. Jetzt sind mir zum Schluss doch noch die Gäule durchgegangen, sorry. Nennt mich Pfarrer Fliege.

Trackliste

  1. 1. Turn It Up
  2. 2. Fightin' Over Me (feat. Fat Joe & Jadakiss)
  3. 3. Stars Are Blind
  4. 4. I Want You
  5. 5. Jealousy
  6. 6. Heartbeat
  7. 7. Nothing In This World
  8. 8. Screwed
  9. 9. Not Leaving Without You
  10. 10. Turn You On
  11. 11. Do Ya Think I'm Sexy

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