laut.de-Kritik
Ein tosender Emotionsorkan, losgelöst von Raum und Zeit.
Review von Michael SchuhEs entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass mit "Pablo Honey", "The Bends" und "OK Computer" im Jahr 2009 drei CD-Boxsets von einer Band in den Handel gelangen, die auf alterhergebrachte Vertriebswege vor kurzem noch mit einer revolutionären Online-Verkaufsidee einen großen Haufen machten.
Während die britische Band ihren Fans "Zahlt, was ihr wollt" zuruft, pocht ihr ehemaliges Label EMI auf den Hoheitsanspruch über Radioheads Back Catalogue und tütete nun zu jedem der drei ersten Studioalben eine zweite Disc mit Maxi-Singles, Live-Versionen, BBC-Aufnahmen sowie - als Limited Edition - DVDs mit Videos und Live-Auftritten ein.
Dem Hardcore-Fan erzählen diese so genannten Sammlereditionen nichts Neues. Der unbedarfte Radiohead-Hörer dagegen dürfte sich mit der einfachen und nun noch billigeren Albumversion begnügen (oder sich die Platte gleich runterladen).
Wie Sänger und Industrie-Gegner Thom Yorke diesem Ansinnen wohl gegenüber steht, ist an der einfachen Tatsache abzulesen, dass die Trilogie auf dem wahren Liebhabermaterial Vinyl erst gar nicht erscheint.
"OK Computer" mag von der Auswahl der Bonusstücke vielleicht nicht die aufregendste Veröffentlichung sein ("Pablo Honey" enthält die "Drill"-EP; "The Bends" Livetracks von '94/'95), ist aber fraglos das monumentalste 90er Jahre-Werk der Gruppe.
Rissen Radiohead bereits mit "The Bends" 1995 alle Brücken zum Sound der kommerziell erfolgreichen Single "Creep" nieder, bedeutete der Schritt vom zweiten zum vorliegenden Album 1997 eine noch bedeutsamere Zäsur.
"OK Computer" zeigte stellvertretend für alle kommenden Radiohead-Tonträger, dass man mit stilistischen Erwartungshaltungen bei Thom Yorke und Co. an der komplett falschen Adresse ist. In den zwölf Songs ihres dritten Albums trafen Pink Floyd auf DJ Shadow, schienen die manischen Gitarrenläufe Jonny Greenwoods in ungeahnter Harmonie einen sanften elektronischen Nährboden gefunden zu haben.
Virtuos und doch nicht prätentiös, opulent strukturiert und doch transparent, melodisch und doch schwer greifbar; das selbst für heutige Maßstäbe vielschichtig angelegte "OK Computer" hinterließ in der Gitarrenszene der Mittneunziger einen Krater und machte nebenbei das Adjektiv "psychedelisch" in Artikeln über die Band salonfähig.
Im vergleichsweise optimistischen Eröffnungsstück "Airbag" funkeln bereits die von Produzent Nigel Godrich in den Folgejahren zu Trademarks erhobenen, düsteren Streicherteppiche, während das streckenweise pastorale "Paranoid Android" in sechseinhalb Minuten schon damals mehr Breaks aufwies, als fünf Oasis-Songs zusammen.
"Exit Music" und "Lucky" bersten voll markerschütternder Intensität, während "Subterranean Homesick Alien" oder "Electioneering" Radiohead-Fans in Teilen noch die guten alten Zeiten vor Augen führen.
Und doch: Das Gros der Platte blickte bereits, losgelöst von Raum- und Zeitkontinuen, in eine ferne Zukunft. Allen voran die Hymne "Karma Police", die "Creep" wie einen vorlauten kleinen Bruder aussehen ließ. Der Glockenspiel-Traum "No Surprises" fungiert kurz vor dem Ende als Haltegriff im tosenden Emotionsorkan.
Exit Gitarre: Auf dem Folgewerk "Kid A" drückte sich die Band ihre Halsschlagader selbst zu, indem sie Greenwoods Stamminstrument zu losem Beiwerk degradierte. Stattdessen entdeckte man das mit dem Theremin verwandte 20er Jahre-Instrument Ondes Martenot und präsentierte nie dagewesene, autistische Soundscapes, die den Begriff Rock endgültig ins Antiquariat schickte.
Dass der Band dennoch erst "Kid A" und nicht "OK Computer" den Durchbruch in den USA verschaffen sollte, ist nur eines der Mysterien dieser bis heute höchst relevanten Formation. Gleichzeitig war dies - mit Ausnahme von "In Rainbows" natürlich - die letzte Radiohead-Platte, die nicht vor der Veröffentlichung im Netz war.
119 Kommentare
Gute Platte...
Untertreibung! Ihre zweitbeste, diese Edition wird wohl gekauft.
Ich find immer wieder erstaunlich wie kompliziert es ist den Sound von Radiohead zu beschreiben. Alex hat es aber gut hin bekommen. Ok Computer ist definitiv eines der genialsten Alben der Neunziger! Sowas kann man nicht immer in Worte fassen.
habs gekriegt und bin ganz entzückt! kid A davor geholt, mag ich nicht.. amnesiac ist dafür godlike
@Chosen One (« @Applemac reloaded (« Radiohead Hasser und Apple Hasser haben etwas gemeinsam. Sie sind dumm wie 10m Feldweg ... mindestens ... »):
ich liebe radiohead und hasse apple...
wie passt das in dein weltbild? »):
Und ist es multiplikativ oder additiv, wenn man Abneigungen gegen Beides hegt?
..ein zeitloses Meisterwerk !!!! 6/5