laut.de-Kritik

Aus dem Ghetto in die Vorstadt.

Review von

Knapp fünfzehn Jahre ist es her, dass mich ein Freund mit einem Quiz frustrierte, dereinst erschienen in der Source. "Hier, 100 Fragen zum Thema Oldschool-Hip Hop. Genau dein Ding, Baby." Klar, immer her: "Die vier Grundpfeiler der Kultur?" Grundwissen, geschenkt. "Wie nannte Kool DJ Herc seine Tänzertruppe? Herculoids. Next, please!

Der lockere Einstieg täuschte aber. Oh, und wie! Nach 100 Fragen verzeichnete ich am Ende gerade einmal zweiunddreißigeinhalb korrekte Antworten: eine demütigende Ausbeute für ein Gebiet, auf dem ich mich bis dahin einigermaßen trittsicher wähnte. Frage 48: "Nenne die erste Hip Hop-Platte, auf der Rock-Gitarren Verwendung fanden, und die Crew, die sie aufgenommen hat." Puh, easy! Endlich wieder was, das ich weiß.

"Hinweis: Run DMC waren es nicht." Waaas??! Verdammt! Okay, dass es nicht "Walk This Way" gewesen ist, die Nummer, die - nicht nur im Video - die Mauern zwischen Rap und Rock niederriss: schon klar. Aber auch nicht deren "Rock Box"? Oder "King Of Rock"? Öh.

Trotzdem kann man sich vermutlich leicht darauf einigen: Mit "Raising Hell", insbesondere der zweiten Auskopplung daraus, "Walk This Way", haben Run DMC Hip Hop ganz neue Einzugsbereiche eröffnet. Selbst unter denjenigen, die der Crew rückblickend (und mit vollem Recht) unterstellen, (zumindest musikalisch) keine allzu tiefen Fußstapfen hinterlassen zu haben, herrscht weithin Einigkeit: Unter kommerziellen Gesichtspunkten existiert für Hip Hop eine Zeit vor "Raising Hell" - und eine danach.

Ja, die Platte ist vergleichsweise schlecht gealtert. Nein, mit harten Drumbeats und drübergebrüllten Catchphrases lässt sich 2017 vielleicht noch der Throwback Thursday beschallen, aber natürlich kein Schnitzel mehr vom Teller ziehen. Ja, Run DMC haben nach "Raising Hell" mit allerlei fragwürdigen Karrieremoves effektiv an der eigenen Reputation gesägt. Ich sag' nur: Doku-Soap. Oder Auftritte mit Kid Rock oder Fred Durst, brrrr!

Ja, ihre größten Hits, derer sich mit "Walk This Way" und "It's Tricky" mindestens zwei auf "Rainsing Hell" finden, sind längst zu Mainstream-Konsens-Material hoch-, runter- und durchgenudelt worden. Ja, ihr fraglos beschissenes Comeback-Album ließen sich im Jahr 2000 nur sehr vereinzelte Kritiker als "einfach cool" unterjubeln. Nein, dass Jam Master Jay 2002 einer Schießerei im Studio zum Opfer fiel, erwies sich als auch nicht gerade förderlich für die Crewchemie.

Aber! Run DMC haben Hip Hop aus der Disco befreit. Musikalisch wie optisch hielt mit ihnen die Härte Einzug. Gewandet in schwarzes Leder, dekoriert mit dicken Goldketten, schwarze Hüte UND "My Adidas", als Gruß an die Knastbrüder unter den Fans selbstverständlich ohne Schnürsenkel getragen, definierten sie die Kopfnicker-Mode neu und beendeten - danke dafür! - die Ära des netzhautzerfetzenden Kostüm-Kasperletheaters. Ihr Deal mit dem Schuhhersteller Adidas lieferte die Blaupause für alle ähnlichen Kooperationen seitdem.

Run DMC etablierten, was als klassisches Hip Hop-Setup gilt: two turntables and a microphone. Das erste Rap-Video in der Rotation von MTV stammte von ... na? Hinweis: Diesmal waren es Run DMC. Sie knackten als erste Rap-Crew die Top-5 der Billboard-Charts. Ihr Album fuhr nicht nur Gold-, nicht einfach Platin, sondern Multi-Platin-Status ein: auch das ein Novum im noch jungen Genre.

"DAS Album, das das Musikbusiness zwang, Rap fortan ernst zu nehmen", schreibt der Rolling Stone über "Raising Hell". Als erstmals ein Hip Hop-Act das Cover besagten Magazins zierte, handelte es sich folgerichtig auch wieder um Run DMC.

Angesichts all dessen stecken Run DMC vermutlich mühelos weg, wenn ihnen Pitchforks Tom Breihan mit dem süffisanten Seitenhieb, selbst Bow Wow habe länger anhaltenden Ruhm genossen, unterstellt, schon fünf Jahre nach der Veröffentlichung der ersten Single wieder komplett irrelevant geworden zu sein. Immerhin: In ihre kurze Glanzperiode fällt das Werk, das Hip Hop den Weg aus dem Ghetto in die Vorstadtsiedlungen ebnete: "Blame it or celebrate it", fordert der Toronto Star. "Den Eindruck, den 'Raising Hell' hinterlassen hat, kann ihm niemand mehr absprechen."

Die Lorbeeren dafür wiederum gebühren zu einem großen Teil Rick Rubin. Gleichermaßen dem Rap und dem Rock, Hip Hop und Hardrock zugetan, verschafft er nicht nur seinen Schützlingen Zugang zur wundersamen (und gelegentlich ein wenig verstörenden) Welt der harten Gitarren. Er verschmilzt das beste aus beiden Welten zu einer im Grunde ganz neuen Stilrichtung, die - zumindest nach Ansicht etlicher Kritiker - "härter rockt als jede andere Rap- oder Rockplatte im Jahr 1986".

Chuck D bezeichnet "Raising Hell" nicht nur als eins der größten Rap-Alben aller Zeiten, sondern auch als ausschlaggebend dafür, dass er und Public Enemy bei Def Jam gelandet sind. "Rein klanglich passiert auf diesem Album schlicht und ergreifend mehr als auf jeder anderen Rap-Platte bisher", schlägt zum Beispiel Stephen Thomas Erlewine von Allmusic in eine ähnliche Kerbe. "Mehr Hooks, mehr Drum-Loops, mehr Scratching, mehr Riffs, einfach mehr von allem."

"Wo andere Rap-Platten, die vorangegangenen von Run DMC eingeschlossen, sich komplett um den Rhythmus drehten, steckt diese voller vielschichtiger Klänge und Ideen, die der Musik einen spürbaren Flow verleiht. Aber die wahre Brillanz dieses Albums steckt darin, dass es selbst mit dieser größeren musikalischen Tiefe immer noch hart wie die Hölle rockt, und das so dermaßen, dass es ganz neue Hörerschaften an Bord holte."

Zunächst holte Rubin aber seine eigenen Mitstreiter ins Boot. Joseph Simmons und Derryl McDaniels kannten die Aerosmith-Platte aus dem Jahr 1975, die ihr Produzent ihnen vorspielte, gar nicht. Auch zeigten sie sich nicht besonders angetan von der Idee, sich dieses "Walk This Way" doch bitte einmal vorzunehmen. Einzig DJ Jam Master Jay sprang auf den Vorschlag an.

Der Karriere von Aerosmith verpasste "Walk This Way" schon die zweite Herz-Lungen-Wiederbelebung. Als Steven Tyler und Joe Perry die Nummer 1975 ausbrüteten, fehlte ihnen zu Riff und Drumbeat lange der Text. Offenbar eine gute Idee, ins Kino zu gehen, wenn man sich bei Aufnahmen in eine Sackgasse manövriert hat: Marty Feldmans "Frankenstein Junior" (respektive der darin die Strippen ziehende Charakter Eye-gor) lieferte Titel, Aufhänger und Inspiration für die Single, die für den Großteil des Mainstream-Erfolgs des zugehörigen Albums "Toys In The Attic" sorgte.

Mitte der 80er ist diese Erfolgswelle allerdings abgeebbt. Aerosmith dümpeln, nicht zuletzt wegen diverser Alkohol- und Drogenexzesse der Beteiligten, wieder ziemlich weit abseits des Radars dahin. Rick Rubin allerdings hat sie noch auf dem Schirm und setzt seine Vorstellung eines Remakes bei den zögerlichen Mitgliedern von Run DMC durch.

Der durchschlagende Erfolg des daraus resultierenden Tracks reißt auch Aerosmith wieder aus dem Dornröschenschlaf - nicht zuletzt, weil Steven Tyler und Joe Perry nicht nur zu hören, sondern im zugehörigen, bei MTV äußerst penetrant rotierenden Musikvideo außerdem zu sehen sind. Dafür Aerosmith in voller Besetzung aufzufahren, konnten sich Run DMC Gerüchten zufolge nicht leisten. Mitglieder der doch eher unbekannten Hairmetal-Formation Smashed Gladys waren offenbar preisgünstiger zu haben.

Egal: "Walk This Way" ging erst durch die Probenraumwand und dann durch die Decke. In bester Bambaataa-Manier, der ebenfalls hemmungslos in unterschiedliche musikalische Schubladen griff, um aus den Versatzstücken etwas Neues zu basteln, setzte das frische Standards, was das Niederreißen von Genre-Schranken betrifft. Der Track veränderte Hip Hop auf Jahre hinaus: die mit weitem Abstand folgenreichste Nummer auf "Raising Hell".

Das Album fährt - neben etlichem Füllmaterial - allerdings durchaus noch das eine oder andere erwähnenswerte Detail auf. Der Funk im Eröffnungstrack "Peter Piper": nicht zu verachten. Das leise alberne Piano in "You Be Illin'" macht nachhaltig Spaß. Fans von Southern-Rock-Gitarren dürfen es getrost einmal mit dem Titeltrack probieren, das sollte eigentlich komplikationslos funktionieren.

Als vierte und letzte Single koppelten "Run DMC 1987 "It's Tricky" aus. Bis der Rechtsstreit mit The Knack um das Sample aus deren "My Sharona" ein außergerichtliches Ende findet, vergehen fast zwanzig Jahre. Die Kombination von Rap und Rock ruft unterdessen unzählige Nachahmer auf den Plan. Run DMC haben sie populär gemacht. Die ersten, die auf die Idee kamen, Tracks mit harten Gitarren zu unterlegen, waren sie offenbar trotzdem nicht.

Womit wir glücklich bei der Auflösung von Frage 48 aus dem Source-Quiz angekommen wären: Die Pionier-Lorbeeren gebühren den Treacherous Three, die den innovativ grenzüberschreitenden Ansatz schon 1981 vorführten - unter dem Titel "Body Rock".

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Peter Piper
  2. 2. It's Tricky
  3. 3. My Adidas
  4. 4. Walk This Way
  5. 5. Is It Live
  6. 6. Perfection
  7. 7. Hit It Run
  8. 8. Raising Hell
  9. 9. You Be Illin'
  10. 10. Dumb Girl
  11. 11. Son Of Byford
  12. 12. Proud To Be Black

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2 Kommentare mit 4 Antworten

  • Vor 6 Jahren

    Die erste Scheibe die Hiphop mit Rock kombiniert hat war die EP "We Care a Lot" von Faith No More 1985, ein Jahr vor "Walk this Way" von Aerosmith/Run DMC.
    Ist aber den wenigsten bekannt weil Faith No Mo9re erst ein paar Jahre später den Durchbruch schafften.

  • Vor 6 Jahren

    Hab mir die Platte damals auch gekauft. Natürlich vor allem wegen "Walk This Way" im neuen Gewand. "It's Tricky" freundlich hingenommen, "My Adidas" etwas verwundert belächelt, mich nach zwei Durchläufen gelangweilt und das Ding dann irgendwann billig verscheppert. So viel ziemlich kruder Text hier mit teils recht diffamierenden Seitenhieben auf Aerosmith, die ein 'Mehrstfaches' an Historie aufzuweisen haben. Aerosmith füllen heute noch Hallen, während Run etc. in irgendwelchen Katakomben schimmeln. Es war schon immer so. Rap & Co. werden extrem überschätzt. Der Herr Rubin übrigens auch, der zauselige Sofa-Lieger :-D P.S.: Beastie Boys mit "Licensed To Ill" im Vergleich wesentlich besser. Die haben den Rock wenigstens wirklich verstanden und assimiliert.