laut.de-Kritik

Bazzazian-808s and Heartbreak.

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"Das war bei mir im Mix der Woche". "Lief in einem Podcast". "Hab ich in einer Instagram-Story gehört". Die meisten, die in den letzten zwölf Monaten irgendwie auf den Newcomer Schmyt gestoßen sind, werden wohl ähnliche, etwas lahme Geschichten zu erzählen haben. Leider sind die deutlich interessanteren Möglichkeiten, an spannende neue Musik zu gelangen, momentan eher limitiert oder längst aus der Mode gefallen. Beim Stöbern im Plattenladen, auf Partys, im Club, auf einem Festival oder beim spontanen Konzertbesuch wurden unzählige Lieblingslieder und -Musiker entdeckt, doch Schmyt gehört vermutlich nicht dazu. Das kommt nun mal davon, wenn man seine Solokarriere während einer globalen Pandemie startet.

"Niemand" heißt das Ausrufezeichen, das der Sänger im April 2020 mit seiner Debütsingle setzte. Schon zu diesem Zeitpunkt war Julian Schmit, wie er mit bürgerlichem Namen heißt, eigentlich alles andere als ein "Niemand" in der deutschen Musikszene. Sieben Jahre fungierte er als eines der "Triebwerke" (Gesang und Gitarre) der Berliner Band Rakede, er war mehrfach auf dem letzten Seeed-Album vertreten und arbeitete für oder mit Künstlern wie Tua, Samy Deluxe, Till Lindemann und Haftbefehl.

Gerade die Zusammenarbeit mit Haftbefehls "Hausproduzenten" Bazzazian, der den Rapper seit jeher mit grundsoliden bis sensationellen Beats versorgt, scheint den Start von Schmyts Solokarriere besonders beflügelt und die "Gift"-EP ins Leben gerufen zu haben. Vier der sechs Tracks des ersten Solo-Projekts des Sängers wurden von Bazzazian produziert ("Niemand", "Taximann", "Jenny" und "100 Euro"). Einer Koproduktion von Bazzazian und Schmyt verdanken wir übrigens auch das wohl gewagteste Stück in Haftbefehls gesamter Diskographie: "Hotelzimmer" vom "Weissen Album" basiert auf Vocals und Chords von Schmyt, die dieser eigentlich selbst verwenden wollte, dann aber Haftbefehls Demo für so "gefühlvoll und zum Heulen traurig" befand, dass er sie bereitwillig hergab. An diesem Wagnis - singender Gangstarapper, der mithilfe von reichlich Autotune die ganz hohen Töne anstrebt - scheiden sich noch immer die Geister.

Die große Frage, ob Bazzazians brachiale und scheppernde Beats als Untermalung von Herzschmerz-, Trennungs- und Liebesliedern funktionieren und ob sie abseits der von Gewalt und Drogen geprägten Welt Haftbefehls nicht fehl am Platz wirken, wurde eigentlich schon mit der Veröffentlichung von Schmyts allererster Single "Niemand" vor ungefähr einem Jahr beantwortet. Nein, sie wirken nicht fehl am Platz. Ja, sie funktionieren. Und wie!

"Niemand" ist ein Song, der eigentlich auch als reine Piano-Ballade ohne zusätzliche Instrumente auskommen würde. In Sachen Songwriting und Lyrik hat Schmyt hier die Messlatte so hoch gesetzt, dass es auch für seinen zukünftigen Output (zunächst mal sein Debütalbum im Herbst) schwer wird, diese Messlatte zu überspringen. In den Strophen getragen von einer dunklen Klaviermelodie mit sinkender Tonfolge nimmt der Sänger die Perspektive eines Typen ein, der mal so überhaupt nicht mit der Trennung von seiner Freundin klar kommt. "Och, das ist niemand", stürzt sie die letzten Überbleibsel der heilen Welt des Ex-Freundes ein und bildet damit die Ausgangssituation für die Geschichte, die Schmyt hier in drei Minuten und 14 Sekunden erzählt. "Niemand macht sich kaputt, hängt bis morgens neun im Club. Macht auf cool, doch heult im Suff. Niemand möchte dich zurück", leitet er zum herzzerreissenden Refrain über. Sowohl textlich als auch musikalisch vermittelt Schmyt den Liebeskummer und die selbstzerstörerische Sehnsucht des "Niemand" überzeugend. Bazzazians kompromisslose Drums setzen Schmyts beeindruckende Vocals gerade im Refrain stark in Szene.

Selbiges lässt sich auch über die Produktion des darauffolgenden Tracks "Taximann" behaupten. Auch hier gerät der Übergang zum Chorus mit einigen unerwarteten Akkordfolgen spannend und erreicht mit Einsetzen des Refrains eine bombastische, bass-lastige Klimax. Thematisch orientiert sich Schmyt ein wenig an Frank Oceans "Bad Religion", nutzt den Taxifahrer als Seelenklempner und klagt ebenfalls über unerwiderte Liebe: "Weißt du, bei mir zuhause wartet nichts / Taximann, sie sagen Gedanken könn'n alles besiegen / Platten können springen, die Zeit kann fliegen / Warum kann ich dann nicht jemand anderes lieben?". Doch während Frank damals in einem der besten Songs des letzten Jahrzehnts seinen Dämonen davonlaufen wollte, steuert Schmyt seinen Taxifahrer geradewegs hinein ins Verderben: "Fahr zur Hölle, Mann, gib Gas! / Das Inferno hält mich warm".

Wer sich noch fragt, was es mit dem Titel der EP auf sich hat, erhält gleich mit dem ersten Track und der dritten Single Aufschluss: Gift = Alkohol. Ob dieser die Beziehung, der auf "Niemand" und "Taximann" nachgetrauert wird, vergiftet hat oder ob die Flucht in den Alkoholkonsum erst eine Reaktion auf die Trennung darstellt, bleibt unklar. Klar hingegen ist, dass es den Feature-Part von RIN musikalisch nicht unbedingt gebraucht hätte, die Unterstützung eines etablierten Künstlers für einen "Newcomer" aber aus Marketing-technischer Sicht auf jeden Fall Sinn ergibt. Das treibende Instrumental unterscheidet sich merklich von den darauffolgenden Beats und stammt von Farhot, der bereits des Öfteren mit Bazzazian zusammengearbeitet hat und mit diesem das Produzenten-Duo Die Achse bildet.

Vergleiche von Schmyts Sound mit dem eines Trettmann oder eines Tua leuchten zwar ein, hinken aber gleichzeitig, weil Schmyt ein versierter Sänger ist und sich mit seinem deutlich spürbaren Hang zur Dramatik und Poesie von den Genannten abhebt. Dieser kommt auch auf "Poseidon", produziert von Alexis Troy und Minhtendo, und "Jenny" zum Vorschein, bevor die EP mit "100 Euro" ein vermeintlich feuchtfröhliches Ende findet.

"Poseidon" handelt von der magischen Anziehungskraft einer Frau, die sich ebenso magisch vom Nachtleben und den verschiedensten bewusstseinsverändernden Substanzen anziehen lässt. "Jenny" erweckt erneut den Anschein, als habe Frank Oceans Klassiker "Channel Orange" einen gewissen Einfluss auf die Mitwirkenden gehabt. Inhaltlich spielt der komplette Text auf den Film "Forrest Gump" an, dem Frank auf seinem Album ebenfalls einen Track widmete. Musikalisch weist der Einsatz der Orgel und der Akkordwechsel Parallelen mit dem bereits erwähnten "Bad Religion" auf. Dass so bahnbrechende Musik wie die von Frank Ocean auf zahlreiche Künstler abgefärbt hat und abfärben wird, ist völlig natürlich. Deshalb wäre es ziemlich abwegig, Schmyt einen Strick daraus zu drehen, dass seine EP an wenigen Stellen Assoziationen an bekannte Künstler weckt.

Mit Schmyts bildhafter Sprache, seinem anspruchsvollen Songwriting, den gekonnt eingesetzten Stimmverzerrungen und der vielseitigen Produktion von Bazzazian, Farhot sowie Alexis Troy und Minhtendo liefert die "Gift"-EP zahlreiche starke Argumente dafür, die Karriere des Sängers weiter mit Spannung zu verfolgen. "Wohin geht die Reise?", fragt sich der Sänger auf dem entschleunigt träumerischen und verzerrten Outro des letzten Songs "100 Euro". Es dürfte sich lohnen, dies herauszufinden.

Trackliste

  1. 1. Gift (feat. RIN)
  2. 2. Niemand
  3. 3. Taximann
  4. 4. Poseidon
  5. 5. Jenny
  6. 6. 100 Euro

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