laut.de-Kritik

Indie-Soul im Sog des Moog-Synthesizers.

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So viel Atmosphäre spürt man selten im Raum. Sharon van Etten nimmt den Hörer auf "Remind Me Tomorrow" mit an einen Ort, an dem schon Mercury Rev und MGMT süßlich-schweren Melodien psychedelische Effekte unterjubelten. Als Indie-Künstlerin wohl eher an kleine verrauchte Keller gewöhnt, fordert Sharon 2019 maximale Aufmerksamkeit ein.

"I Told You Everything" und "No One's Easy To Love" reihen sich noch ins Erbe Leonard Cohens ein, "Memorial Day" wirkt jedoch wie ein Mix aus Nightmares On Wax und akustischen Zutaten. Keyboards und Gitarre klingen disharmonisch gewürgt und kratzig aufgescheuert, dazu gesellen sich Soul-Harmonien. "Comeback Kid" nimmt anschließend die Smash-Hit-Rhythmik der "Kids" von MGMT auf.

Van Etten stand bislang in der Tradition von Künstlern wie Mazzy Star, Kate Bush oder auch Skunk Anansie. Sie ist ebenfalls in der Lage, die Schwermut einer Vollmondnacht ausdrucksstark und vorsichtig pathetisch zu vertonen. Hierzu dienen ihr vibrierende Moog-Sounds im Stile der späten 70er (10cc, Emerson, Lake & Palmer), zu hören etwa in "Comeback Kid". Zum Verzerrer greift sie in "Jupiter 4".

Im Unterschied zu den meisten genannten Kollegen hält sich die Amerikanerin durchweg im Uptempo-Bereich auf. Mit erhabener Konzentration krallt sich ihre enorm präsente Stimme tief tönend "You Shadow" oder verträumt-verschlafen mit hellem Timbre ("Malibu") jede Gelegenheit um abzuheben. Sie vertieft sich in diese Lieder, als würde sie Raum und Zeit vergessen und über sich selbst hinauswachsen. Sharons Energie und ihr Selbstvertrauen stecken einen spätestens bei "You Shadow" an.

Wie das Coverartwork andeutet, verzichtet sie auf jegliche Tricks. Hier wird nicht sauber aufgeräumt, um einem Urteil der Sorte "Was sollen denn die Leute beim Anblick von so viel Chaos denken?" zu entgehen. So verzichtet Frau Van Etten auch darauf, Refrainzeilen fünf Mal zu wiederholen, damit sie wirklich jeder mitkriegt. "Remind Me Tomorrow" erinnert an einen Tiefkühlgemüse-Hersteller, der Konservierungsstoffen, Geschmacksverstärkern, Gentechnik und manipulierender Hefe den Kampf ansagt. Denn: Es geht auch einfach, mit gut ausgesuchten Zutaten, mit Verdichtung, Fokus aufs Wesentliche und rhythmischer Sicherheit.

Die Texte dazu sind angenehm easy und frei von Kafka-Rätseln oder Doppeldeutigkeiten. Das nach vorne gemischte Schlagzeug dominiert den Album-Sound. Eine elektronische Farfisa-Orgel oder das auf Körperwärme reagierende Theremin (beides bekannt von Jean-Michel Jarres "Oxygène") verfeinern die Klangfarbe. Hinzu kommen hier und da Glocken, Vogelgezwitscher und das Schnarren von Enten, eine Celesta (eine Art Metallophon, äußerst selten im Pop, bei Nick Drake zu finden), Holzbläser und die analoge 808-Drum-Machine (bekannt aus Marvin Gayes Hit "Sexual Healing").

Anhänger der australischen Psychedelic-Folk-Großmeister The Avalanches könnten sich im Sound der New Yorkerin ebenfalls wiederfinden, denn ihren typischen Country-Stil packt die Frau aus New Jersey eigentlich nur in "Stay" aus. "Remind Me Tomorrow" ist ein zeitgemäßes und facettenreiches Synthie-Album geworden, das nur einen Nachteil hat: Es hört zu früh auf.

Trackliste

  1. 1. I Told You Everything
  2. 2. No One's Easy to Love
  3. 3. Memorial Day
  4. 4. Comeback Kid
  5. 5. Jupiter 4
  6. 6. Seventeen
  7. 7. Malibu
  8. 8. You Shadow
  9. 9. Hands
  10. 10. Stay

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