laut.de-Kritik

Ciry Pop - der Soundtrack zum japanischen Wirtschaftswunder.

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Die 70er Jahre sind für die japanische Popmusik ein Schlüsselmoment zur Selbstfindung. Beatlemania klingt gerade ab, die Band Happy End beantwortete die Frage, ob man Rockmusik in die Landessprache übersetzen kann mit einem lautem Ja, und ein gewisser Yoshio Hayakawa etabliert in Tokio ein Pendant zu Velvet Underground. Das Folk-Revival Ende der Sechziger neigt sich ebenfalls seinem Ende zu, und die Resonanz auf Miles Davis' Jazz-Fusion bringt eine kurzlebige Strömung an neuen Pop-Sounds ins Rollen, die pragmatisch als New Music bezeichnet wird.

Kurzum: Die Popmusik des Landes steckt kopfüber im Chaos. Doch es lässt sich auch eine Offenheit für neue Impulse und eine Sehnsucht nach neuen Charakteren heraushören, die zum Nährboden für eine große neue Ära avancieren. Besagte Ära spüren die Mitglieder der Band Sugar Babe zwar noch nicht, als sie sich 1975 auflösen. Dennoch sollte ihre Sängerin zwei Jahre später ein Soloalbum veröffentlichen, das aus dem Zeitgeist die Shape Of J-Pop To Come destillieren wird: City-Pop.

Das Album, das 1977 ein Paradigma für diese Entwicklung sein wird, heißt "Sunshower". Es entsteht als Reaktion auf die positive Resonanz auf Taeko Ohnukis Debut "Grey Skies", das zwar bereits musikalisches Neuland betreten hat, aber sich noch nicht gänzlich vom Zeitgeist der Vorband loslöst. Für den Nachfolger wird ein Line-Up rekrutiert, das hellhörig macht.

Bass, Keyboard und Produktion übernehmen Ryuichi Sakamoto und Haruomi Hosono, die zur selben Zeit an einem Bandprojekt arbeiten, das als Yellow Magic Orchestra in die japanische Musikgeschichte eingehen wird. Yasuaki Shimizu, dessen Album "Kakashi" ein Klassiker des japanischen Funks werden soll, spielt Saxofon. Pop-Bassist Tsugutoshi Goto übernimmt mehrere Basslines, und Chris Parker von der New Yorker Band Stuff sitzt nun statt für Aretha Franklin oder Joe Cocker für Taeko Ohnuki an den Drums.

Bereits der Opener "Summer Connection" klingt wie ein Sommerwind. Distanziert von der Wildheit eines Jazz, der gerade irgendwo zwischen "Bitches Brew", "Herbie Hancock And The Headhunters" und Alice Coltrane stattfindet, klingt die Musik von Taeko Ohnuki bewusst nach Pop. "Sunshower" gibt den Soundtrack zu Wirtschaftswunder und Urbanisierung, klingt schick, mild und unaufgeregt. Die Mischung aus Jazz, Funk und Pop gebiert ein Album, das in seiner reinen Schönheit zeitlos anmutet, aber dennoch so klar geprägt ist von den ästhetischen Vorstellungen der Zeit, das es nur in genau dieser Konstellation hatte entstehen können.

Das Urbane steht im Vordergrund der Platte, sei als thematisches Motiv oder als immer präsenter Flair. Nach einem energetischen, erbaulichen "Summer Connection" geht sie in eine eingängige, griffige Flötenmelodie auf "くすりをたくさん" über. Übersetzt man diesen Song, fördert er jedoch einen nicht unkritischen Text zu Tage: "Lots of drugs / Pick and choose and see / So many of them / If you take them, it'll be the end / As soon as you recover, you'll be sick again".

Ein Gefühl, dass zum Beispiel auf dem Track "都会 " ("Metropole") weitergeführt wird. Die Ambivalenz des städtischen Raums etabliert sich zum zentralen Motiv des Albums, das in seiner unaufgeregten Beschwingtheit stets wie der Puls einer belebten Einkaufspassage klingt. Der Groove auf "都会" ist lebendig, das Spiel zwischen Piano, Drums und Blechbläsern klingt dynamisch, doch die Vocals von Ohnuki tragen eine formlose Schwermütigkeit in sich. Eines der charakteristischsten Elemente von "Sunshower" und Ohnukis Musik generell.

Immer wieder pendelt die Tracklist zwischen getriebener Alltäglichkeit und stiller Melancholie. Ersteres drückt sich in Swing-Elementen, Blechbläser-Soli und treibenden Grooves aus, die auf eine abwesende Beiläufigkeit von Ohnukis Gesang treffen. Songs wie "Law Of Nature", "Silent Screamer" oder "Summer Connection" transportieren ein Gefühl der Routine zwischen aufregendem neuen Stadtleben und der gleichzeitiger Monotonie der aufkeimenden Leistungsgesellschaft.

Doch auf jeden energetischen Song folgt eine Ballade. Die Balladen (zum Beispiel "からっぽの椅子", "誰のために", "都会") teilen die unaufgeregte, sonnige Stimmung ihrer Gegenstücke, weswegen die Tracklist sich nicht inkohärent anfühlt, entwickeln allerdings durch ihre unterschwellige Schwermut eine faszinierende Tiefe. Immerzu schwingt da eine gewisse Hoffnung mit, eine gewisse Eleganz in den feinfühligen Piano-Melodien oder Holzbläsern. Dank des hervorragenden Songwritings finden sich ambitionierte Soli und Bridges, Instrumentenvielfalt und vielschichtige Variation auf nahezu jeder Nummer.

Zu diesem atmosphärischen Spannungsfeld stoßen auch einige Experimente: "何もいらない" unternimmt einen kurzen Ausflug in die Gefilde von Disco und Soul und etabliert geschmackvoll Synthesizer in einen Track, der weniger Popsong, sondern Ballade über die Sehnsucht nach einem starken Sturm ist, der einen Neuanfang mit sich bringen soll.

Ein ähnliches Gefühl transportiert "Sargasso Sea", ein Highlight der zweiten Hälfte. Der Song beschäftigt sich mit dem biologischen Phänomen der Algenfelder im gleichnamigen Meeresgebiet vor Amerika, um einige der faszinierendsten musikalischen Texturen der Platte zu erschaffen. Durch schnelle, schrille Synthesizer-Tremolos und daraus hervorstechenden Hochtönen erzeugt der Song eine verlorene, nautische Ambient-Atmosphäre, kurze Pianomelodien erzeugen ein Gefühl von abgeschottetem Fernweh, womöglich die Sehnsucht nach Rückzug und Ruhe - ein beachtlicher Kontrast zum bislang so urbanen Ambiente.

Vieles an "Sunshower" lässt diese Platte so hervorragend altern. Natürlich ist da allem voran die meisterhafte Produktion zu nennen, die Ohnukis einzigartige Stimme und das lebendige, vielseitige Spiel der Musiker auch nach heutigen Standards kristallklar und extrem ansprechend klingen lässt. Doch auch das Atmosphärische wirkt aktuell.

Ein Album über die latente Schwermut in einer Zeit des Aufschwungs, die zwar neue Technologien, neue Berufsfelder und Wohlstand bringt, gleichzeitig aber auch Leistungsdruck und soziale Hierarchien bedeutet. "Sunshower" bezieht keine politische Stellung, sondern fängt das Leben zwischen deren Polarität ein. Es ist hoffnungsvoll und besorgt, seelenruhig und melancholisch zugleich.

Der Sound, für den ihre Band Sugar Babe die Grundzüge legte, wurde zu einer Blaupause, die später durch die 1978 und 1980 erschienenen Synth Pop-Pionierstücke "Yellow Magic Orchestra" und "Solid State Survivor" ihrer Wegbegleiter vom Yellow Magic Orchestra ausgefüllt wurde.

Der cineastischer Nachfolger "Mignonne" liefert mit Nummern wie "Boisterous Woman" und dem atemberaubenden "4.00A.M." weitere Genre-Staples für den City Pop. Der avancierte in den Achtzigern zur treibenden Kraft der japanischen Popmusik. Ein Genre, das den Zeitgeist bis zum Advent von Shibuya-kei in den 90ern und modernem Idol-J-Pop prägt.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Summer Connection
  2. 2. くすりをたくさん
  3. 3. 何もいらない
  4. 4. 都会
  5. 5. からっぽの椅子
  6. 6. Law Of Nature
  7. 7. 誰のために
  8. 8. Silent Screamer
  9. 9. Sargasso Sea
  10. 10. 振子の山羊
  11. 11. サマー.コネクション
  12. 12. 部屋
  13. 13. 荒凉

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