laut.de-Kritik

Anna von Hausswolffs tröstende Schwester.

Review von

Es liegt schon einiges an Arroganz darin, dass wir andere Lebewesen aus der Sicht der Menschen bewerten. Dass wir entscheiden, ob ihre Leben lebenswert sind oder nicht. Dabei haben wir noch nicht darüber gesprochen, wie der Begriff "Ungeziefer" von Diktatoren wie Hitler oder Stalin auf unsere eigene Spezies angewandt wurde.

Tara Nome Doyle hingegen hat ein Herz für Ungeziefer. Es kreuchen und fleuchen Blutegel, Raupen, Schnecken, Moskitos, Motten und Würmer durch ihr zweites Album. Wobei sich spätestens bei Spinnen und Krähen die Frage stellt, wie diese in die Auflistung kamen.

Die 24-jährige, in Berlin wohnhafte Singer/Songwriterin mit norwegischen Wurzeln singt dabei nicht einfach 2D-Geschichten über unsere possierlichen Freunde. Keine Märchen, wie sie mit ihren vielen Beinchen, ihren Stacheln oder ihrem Schleim in den Ecken warten, um uns zu piesacken. Keine Arrangements, die klimpernd Spinnenbeinchen imitieren. Auf ihrem Konzeptalbum stellt sie eine Verbindung zwischen den Seelen dieser Lebewesen und unseren her. So öffnet sie eine weitere Ebene.

Dafür greift Doyle Konzepte des Psychoanalytikers Carl Gustav Jung auf. In ihren Texten schwankt sie immer undeutlicher mal zur einen, mal zur anderen Seite. Zwar nimmt sie diese Tiere, um unser Innenleben in ihrem zu finden. Gleichzeitig stellt sich aber auch die Frage, wie viel von uns in diesen Lebewesen steckt.

Ihre intensive und variantenreiche Stimme stellt ihr Hauptinstrument dar. Mal sanft, hoch, mal tief und gefährlich, mal verzerrt. Klavier und Orgel tragen diese, lassen sie zeitweise wie Anna von Hausswolffs tröstende Schwester wirken, die sich mit Agnes Obel zum Musizieren in einem Noctarium trifft. Die weiteren subtilen Elemente ihres Kammerpops steuern Schlagzeuger Larry Mullins (Bad Seeds, Iggy Pop), die Cellistin Anne Müller (Agnes Obel, Nils Frahm), Tobias Humble (Gang Of Four, Ghostpoet), und Violinist Simon Goff bei. Der mit zwei Grammyy ausgezeichnete Goff produzierte das Album auch.

Langsam und sich leise aufbauend setzt eine Orgel in "Leeches I" die Atmosphäre für "Værmin". Nach kurzer Zeit schließt sich Doyles Stimme dieser bedächtig an. Klavier und das zart einsetzende Schlagzeug hellen die Stimmung ein wenig auf, leiten zum Refrain, in dem sie von Gebeten für Blutegel singt.

Im beklemmenden "Caterpillar" klingt ihre eben noch hohe Stimme plötzlich tief und bedrohlich. William Faulkners "Kill your darlings" ergänzt sie mit "Cause they don't understand you / Like I do / Come bathe in liquidised truth.". Ein ehrliches Lied über Depressionen, dessen Text aber auch die Interpretation einer klammernden unsicheren Person mehr als nur zulässt ("Don't try to flee / Embrace quarantine / You don't need friends / You just need me"), die neben sich niemand anderen erduldet. "Feed me lice / Watch me bloom / Come creep into my cocoon", singt Doyle, setzt die Ähnlichkeit von "lice" und "lies" geschickt ein.

Wie eine Schnecke gibt sie ihren Songs immer wieder alle Zeit der Welt, um sich aufzubauen. "Snail I" beginnt nur mit ihr und Piano, begleitet von Cello und Violine. Die Schönheit und die Melancholie dieses Liedes baut sich zuerst auf, bevor das Schlagzeug hinzu stößt. "Show me the way, describe the route / 'Cause I'd gladly walk, a mile or two / Get closer to you / Get to know you and then / Slow and steady wins the race." Dabei nimmt der Song nicht einmal den gerade Weg, baut sich auf, nur um wieder abzubrechen und als neue Variantion zu beginnen. Vom Beginn einer Beziehung spult er abrupt in eine spätere, weitaus weniger euphorische Phase vor. "Mind your words / Mind your steps around me / Remember how long it took us to get here."

Nach einem zarten Beginn erhält "Crow" durch Doyles verzerrte Stimme, zaghafte synthetische Ansätze im Arrangement und ein hämmerndes Schlagzeug einen Hauch von Goth. Im Text zitiert sie Shakespeares "Romeo und Julia": "Never was a story of more woe / Than that of the nightingale and the black crow." Ich zitiere hier nicht Matt Ruffs Auslassung über "Romeo und Julia" aus seinem Buch "Fool On The Hill".

"You're like a moth drawn to my pain" singt sie in die Einöde der minimalistischen Klavierballade "Moth", einem dunklen Chanson, der zum Highlight auf "Værmin" heranwächst. Der neben ihr Klavierspiel und ihre von so vielen Nuancen gespickten Stimme nur zaghafte, sich plagende Streicher stellt. Den abschließende Titeltrack bestreitet sie letztendlich zu tiefen Trommeln auf Norwegisch, zeigt ihre mystische Seite.

Mit "Værmin" gelingt Tara Nome Doyle ein ausdrucksstarkes und komplexes Album. Ein herrlich kauziges Werk einer mit beeindruckender Stimme ausgestatteten Frau, das die Schönheit dort sucht, wo viele sich angewidert von der Hässlichkeit abwenden. Mögen es die Ungeziefer oder unsere Gefühle sein.  

Trackliste

  1. 1. Leeches I
  2. 2. Caterpillar
  3. 3. Snail I
  4. 4. Snail II
  5. 5. Mosquito
  6. 6. Crow
  7. 7. Moth
  8. 8. Spider
  9. 9. Worms
  10. 10. Leeches II
  11. 11. Vermin
  12. 12. +
  13. 13. Vær min

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