laut.de-Kritik

Blur meets The Pipettes: Zwei Eigenbrötler suchen die Liebe.

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Traurige Bläser und jazzige Arrangements: Die Dunkelheit ergreift anscheinend auch von Graham Coxon Besitz und zerstößt in "Sleepwalking" die Hoffnung, dass irgendeiner von Blur mal wieder den Weg aus der umfassenden Schwermut findet. Die war natürlich irgendwo schon immer da, in Nuancen auf ihren Britpop-Alben in den 90er Jahren, später dann unüberhörbar, besonders auf dem bisherigen Abschlusswerk "The Magic Whip", der vertonten Midlife-Crisis aus dem Jahr 2015.

Zergrübelt und nachdenklich betrat fast zeitgleich zum Album von The Waeve auch Blur-Drummer Dave Rowntree mit "Radio Songs" die Solo-Bühne. Man könnte meinen, es existiere eine telepathische Verbindung oder Absprache zwischen den Bandmitgliedern. Die Grundstimmung auf Damon Albarns Soloalben ist sowieso notorisch abgründig, seine Mitstreiter scheinen dem dunklen Pfad in die tiefen Abgründe der Seele nun artig zu folgen. Nur Bassist Alex James lächelt noch lausbübisch wie in seinen Twenties in die Kamera und widmet sich irgendwo im englischen Hinterland seiner Käserei-Fabrik, abseits der dunklen Materie der Musikindustrie und gut genährt.

Gitarrist Graham gilt im Bandverbund als das sture Sorgenkind, dem der Mainstream-Erfolg von Blur immer suspekt war. Wirklich glücklich wirkte er danach auch nicht, bis er endlich Rose Elinor Dougall traf, ehemals Sängerin bei der leider zu früh aufgelösten Indie-Band The Pipettes. Sie unterstützt ihren Partner auf "The Waeve" so gut es geht. Damit ihr Freund seinen Existenzängsten nicht alleine gegenüber steht, tragen sie all das schwere Gewicht der Welt gemeinsam. Ihre variable, mal lasziv-rauchige, dann wieder gefühlvolle Stimme bildet das eigentliche Fundament des Albums, während Graham nur ab und zu nuschelig seinen Part beisteuert.

So fragt er zaghaft in "Can I Call You", ob er jemanden anrufen darf, der ihm die Traumata seiner zerbrochenen Liebschaften einfach weg küsst. Es geht auf diesem Album häufig um Momente der Liebe und deren Verschwinden. Mit Zeilen wie "I feel my heart, it dies in me / That's what they call atrophy" serviert das Paar sogar eine medizinisch-sachliche Aufarbeitung von Liebeskummer. Es ist ein wechselseitiges Weltschmerz-Duett, und beide Stimmen ergänzen sich perfekt.

"Can I Call You" beginnt gemächlich zu sanfter Klavierbegleitung, relativ schnell wechselt die Grundstimmung dann in Frustration über die schiere Unmöglichkeit, das Glück zu finden. Am Höhepunkt der Anklage schreien beide gemeinsam "I'm tired of being in love / I'm sick of being in pain". Als massives Ausrufezeichen dahinter fungieren Coxons aufheulende Gitarre und ein leicht chaotisches Treiben zwischen Punk und Prog, Wut und Aufgabe.

Emotionen, Tempo-Sprünge und Einfälle prägen das Album, was gerade Fans von Graham Coxon nicht verwundern sollte, dessen Alben oft einem unsortierten Gedanken-Workshop ähneln. In "Someone Up There" fährt er seinen kauzigen Indie-Rock fast alleine gegen die Noise-Wand. Vielleicht kein Album-Highlight, dafür darf der ständig unter Strom wirkende Mann hier mal trotzig alles rauslassen, was in den anderen Songs nur vor sich her brodelt.

Angenehm wirkt dagegen "Drowning": Eine sanfter Film-Noir-Soundtrack, in dem Dougall den Song in Femme-Fatale-Manier wieder mal komplett an sich zieht. Eine leicht erotische Note zwischen Begehren und einsamer Nachtfahrt-Trance. Sechs Minuten lang bleiben die experimentierfreudigen Musiker komplett bei sich und schenken uns inmitten der Freestyle-Collage einen sanften Moment, der ihre gemeinsamen Stärken ausspielt. Sehr britisch, sehr klassisch und sehr gut.

Auch das countryeske Folk-Duett "You're All I Want To Know" profitiert von diesem konventionellen Weg. Ein Glück, denn hier herrscht endgültig Ruhe und eine klare Linie. Man möchte Graham und Rosie beinahe bitten, solch kohärenten Ansätzen öfter zu folgen, aber das hier ist keine Oper und Musik keine Erziehungsanstalt. Also hören wir den kreativen Eigenbrötlern lieber dabei zu, wie sie sich kurz finden, anschließend wieder verlieren und trotzdem etwas sehr Schönes erschaffen.

Trackliste

  1. 1. Can I Call You
  2. 2. Kill Me Again
  3. 3. Over and Over
  4. 4. Sleepwalking
  5. 5. Drowning
  6. 6. Someone Up There
  7. 7. All Along
  8. 8. Undine
  9. 9. Alone and Free
  10. 10. You're All I Want To Know

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