laut.de-Kritik
Diese Psychose ist tanzbar.
Review von Maximilian SchäfferEs beginnt mit Muzak, 2:43 Minuten lang unspektakuläre Fahrstuhlmusik mit dem Titel "20 Jazz Funk Greats", gleichzeitig der Titel des Albums selbst. Verwirrung, ein Drumcomputer, ein Bassbeat vom Synthesizer, so etwas wie Versatzstücke von Saxophon und verzerrter Gitarre, dazu eine Discostimme, die lasziv haucht: "Nice! Tonight! Jazz! Yeah!" Bereits hier, im allerersten, allerunscheinbarsten Lied der Platte erlebt man die Art Vexierspiel, die Throbbing Gristle so meisterhaft beherrschten.
1979 erschien die Platte, die sie berühmt machen sollte. Da hatten die Männer, Frauen und Zwischenwesen aus Hull in Yorkshire, Nordengland, schon mehr als zehn Jahre lang für Anarchie im Vereinigten Königreich gekämpft. "COUM Transmissions" nannte sich die zunächst als Performancegruppe gegründete Vereinigung um Neil Andrew Megson alias Genesis P-Orridge und Christine Carol Newby alias Cosey Fanni Tutti. COUM handelte Pornographie, Nacktheit, Bigotterie, Wahnsinn und Psychedelia in programmatischer Intermedialität ab. Das Kollektiv gab einen Furz auf das Establishment in Großbritannien und lebte – im Gegensatz etwa zu den Sex Pistols – auch mit den Konsequenzen. Im Parlament nannte man sie "Zerstörer der Zivilisation". Staatliche Förderung blieb aus, P-Orridge vertrieb man 1991 endgültig mit dem Supertrumpf der Strafverfolgung: "Kindesmissbrauch".
Nachdem man sich zur Vereinfachung als Band formierte hatte, mussten Platten folgen. 1975 stellte man den ersten Jahresbericht zur vermeintlichen Ergebnislage vor und veröffentlichte ihn zunächst nicht. Im Folgejahr dann die erste offizielle EP/LP gleicher Betitelung: "The Second Annual Report" kam 1977 auf Industrial Records und später auf Mute Records, weil sich bald herumgesprochen hatte, dass darauf Zeugs zu hören war, das bisher unerhört war. 1978 "The Third and Final Report", das an musikalischer Raffinesse und Variabilität zulegte. Selbstgebaute Synthesizer und Effektgeräte, viel Lärm, dazu elegische Terrorsongs über Serienmörder ("Very Friendly") und grausame Entstellungen im Gesicht ("Hamburger Lady"), wechselten sich ab mit seltsam melodischem Flächengedudel und Tanzrhythmen, die, fast groovy, wohlgefälliges Kopfgewackel induzierten ("United", "AB/7A").
"20 Jazz Funk Greats" ist hingegen keine Ideensammlung, sondern ein Konzeptalbum. Diese Anlage zu erkennen, bedarf es allerdings etwas mehr Investigation als bei "Sgt. Pepper" oder "The Wall". Aufschlussreich ist die Gestaltung des Plattencovers: Die Band steht, brav in beamtischem Zwirn, auf einer saftigen Wiese. Was es damit auf sich hat, verrät Track 2. "Beachy Head" ist ein über die Jahrhunderte hinweg beliebter Selbstmörderfelsen – dort wurde das Foto geschossen. Subversion also. Vogelgezwitscher wird von düsteren 'Streichern' und zitterndem Drone untermalt. Die Wahrheit ist ironisch, aber in ihrem Kern schwelt die Dunkelheit.
Variationen verschmutzter Fahrstuhlmusik setzen sich in "Still Walking" und "Tanith" fort. Einmal marschierend, mit Drumcomputer, dann verträumt mit Glockenspiel und Wah-wah-Bass. Klingt wie der Soundtrack zu Kenneth Angers "Lucifer Rising", ist thematisch auch nah. "Tanith" stammt aus dem Hammer-Horrorfilm "The Devil Rides Out". Ein paganes Wort für ein magisches Wesen, eventuell eine Gottheit. P-Orridges Okkultismus erzeugt in den folgenden Jahren gar eine Vereinigung namens "The Temple ov Psychick Youth". Böse Zungen nennen so etwas Sekte.
In Rille 5 dann der erste Hit. "Convincing People" steht einer konventionellen Songstruktur bisher am nächsten. Mantrisch wiederholt eine durchs Echo gedrehte Stimme paranoide Sätze, die die Kunst psychischer Manipulation beschreiben. Die ständige Verzögerung des Gesangs lässt an multiple Persönlichkeitsstörungen denken. "There's several ways / To convince people / And there's several days / And there's never a way / To convince people" – ansteigend widersprüchlicher, wirrer und fiebriger wird der Song im Laufe seiner 4:49 Minuten. Diese Psychose ist tanzbar.
Während "Exotica" das Gedudel von "Tanith" wiederholt, folgen mit Track 8 und 9 zwei Kracher der allerersten Güte. "Hot on the Heels of Love" ist eine Parodie auf den Hi-Energy-Sound Giorgio Moroders. Cosey Fanni Tutti stöhnt dazu den Titel in Mikrofon und verzerrt ihn durch Spiritualität: "Hot on the heels of love / I'm waiting for help from above". In der Disco wartet man eigentlich nicht auf Erlösung. An dieser Stelle darf man die beiden weiteren Mitglieder der Band nicht vergessen: Chris Carter und der 2010 verstorbene Peter Christopherson. Beides extrem wichtige Figuren der Kunstmusik und für den Gesamtsound, sowie die technische Bastelei zuständig. Spätere Karrieren bei Psychic TV und Coil, Discosound und Industrial mit Chris & Cosey.
"Persuasion" ist das vielleicht eindrücklichste Produkt auf dieser Scheibe. Inhaltlich ähnelt es "Convincing People". P-Orridge wendet seinen charakteristischen Halbgesang an, um den geschlechtlich unbestimmten, aber triebhaften Märchenonkel zu mimen: "Persuasion / I've got a little biscuit tin / To keep your panties in / Soilde panties, white panties, school panties, why-Front Panties / By the canal, by the canal / And I persuade you". Hätte Falco "Jeanny" in einer Gummizelle aufgenommen, würde es so klingen. Monotone Basstöne, dazu ein Gequietsche, vielmehr Gejaule, das sich wie sterbende Tiere windet. Blixa Bargeld konnte phasenweise ähnlich kreischen. Man hört mit Schmerzen, aber kann nicht weghören, weil hier eigentlich eine Ballade komponiert wurde, deren Ausgang ungewiss bleibt, und deren Hypnose man genauso verfällt wie das fiktive Opfer des Erzählers: "When you've done it all it's too late to care / When you've done it all it's too late to care / Oh I persuade you / Like always I persuade you / Look in my eye".
Erholung erzeugt "Walkabout", das mit fröhlichen Synth-Arpeggios aufheitert, bis der Hörer noch mal gefordert wird. "What A Day" wälzt einen Maschinenbeat über viereinhalb Minuten. Ein Arbeitsalltag, so monoton wie die graue, britische Realität vieler schmutzverschmierter Werktätiger dieser Zeit. Die Industrie ist in der Krise, der Arbeiter schon lange. Ein politisches Lied.
Ganz zum Schluss noch eine Zusammenfassung: Was ist Musik? Was ist die Vergangenheit? Was ist die Zukunft? Was ist das Leben? "Six Six Sixties" gibt darauf keine Antworten, zirkelt aber musikalisch und thematisch um das auf "20 Jazz Funk Greats" angesprochene Konzept der ganzheitlichen Subversion. Dieses Album ist ein eklektisches, man will sagen postmodernes und in diesem Verständnis vielleicht sogar das allererste seiner Art. Throbbing Gristles Postmoderne steht der zeitgenössischen Kultur allerdings weder bewundernd, noch versöhnlich gegenüber. Wer sich einlullen lässt, ist verloren. Wer der naiven Propaganda der Werbung glaubt, auch. Wer noch Musik hört, ist schon der Muzak verfallen. Genesis P-Orridge spricht noch einmal zum Hörer: "Pain is the stimulus of pain / But then of course nothing is cured / This is the world". Dem gibt es nichts hinzuzufügen.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
3 Kommentare
Längst überfälliger Meilenstein, danke. Ich dachte den hier bringt ihr erst nächstes Jahr zum 40. Jubiläum.
Toller Text. Vielleicht das wegweisendste und einflussreichste Industrial-Album überhaupt.
schicker text, schöner stein-