laut.de-Kritik
Ändrögyn: ein Leviathan von einem Album.
Review von Franz MauererWas macht Tommy Lee auf "Andro" eigentlich? Für alle unter 30: Tommy Lee ist äußerlich eine Mischung aus Dennis Rodman und Steven Tyler, er ist der alkoholkranke Schlagzeuger der ihr eigenes Erbe verwaltenden Band Mötley Crüe, und er hat außerdem das Celebrity-Pornotape quasi erfunden. Kurzum, eine Legende. Aber halt weniger eine musikalische und mehr eine Lifestyle-Legende.
Also, was treibt Tommy Lee auf "Andro" eigentlich? Denn das ästhetisch durchaus gelungene, unterkühlte Cover passt nicht im Geringsten zum Sound der Scheibe. Es geht ausgesprochen weird zu: Dutzende größtenteils nur semi-bekannte Feature-Gäste sind am Start. Aufgrund der unglaublichen Heterogenität führt an einer Song-für-Song-Review auch kein Weg vorbei. Tommy Lee singt übrigens fast gar nicht, sondern tritt als Produzent und Co-Songwriter auf.
Der Opener "Knock Me Down" haut einen erst mal wirklich um. Ein Bastard aus Ministry und Ghostemane, live bestimmt der Hammer, auf Scheibe nach zwei Minuten aber leicht fad. Den Rap-Part übernimmt Killvein, der Mann mit den schönsten Locken im Musikgeschäft und bislang quasi völlig unbekannt. Der Gute taucht auf "Leave Me Alone" erneut auf und geht im Sound sehr Richtung Pouya und Konsorten. Die beiden Songs aus der Trap-Ecke funktionieren aber, haben Schwung und erfüllen zumindest den Genrestandard.
Also ein Trap-Industrial-Album, denkt ihr? Nix da! Um zu verdeutlichen, wie wild dieses Ding ist: Auf "Hot Fudge Sundae" erzählt der Sänger von Buckcherry, wie sehr er 'nuts' mag – und das mit einer Stimme, mit der er bei jeder Telefonhotline die bottom bitch wäre. Jep, das ist der ganze Song. "You Dancy" ist die nächste weirde Nummer. Lee sagte im Interview, dass er sich bei dem Song an Prince erinnert fühlt - zu Recht. Die gnadenlos tanzbare Funk-Nummer mit dickem Prollbass läuft ohne jede Ironie, und ist genau deswegen leider richtig geil. Man merkt dem Track an, wie viel Spaß Lee, der hier sprechrappt, und Lukas Rossi bei der Aufnahme hatten.
Die beiden kennen sich schon eine Weile, da Rossi vor über zehn Jahren bei einer Fernsehshow den Sängerplatz in Supergroup Rock Start Supernova ergatterte. Das zugehörige Album ist übrigens ebenso grotesk wie gnadenlos unterschätzt. Rossi hat einen zweiten Auftritt beim Prince-Cover "When You Were Mine" und fährt es als Schunkelversion dann dank seiner dünnen Stimme allerdings komplett gegen die Wand. Der Song soll schmalzig sein, hört sich aber eher nach Friteusenfett an.
"Ain't Tellin Me Nothing" eröffnet den Reigen der schrecklichen klassischeren Rap-Songs. PAV4N mit seinem nasalen britischen Stimmchen hat dem recht harten Beat einfach zu wenig entgegenzusetzen, der Song kommt nie aus dem Startblock. "Soma Coma" zeigt, dass Tommy Lee mal mit Skrillex tourte. Drop vorhanden, Song unerträglich. Zwar schlägt sich der ebenfalls britische Shotty Horroh besser, aber der Beat versagt völlig. Ein billiges Skelett von nervigen Sounds, ein schrottiger Horror.
"Caviar On A Paper Plate" mit dem wie gehabt schwach liefernden Mickey Avalon ist ebenfalls zu halbarschig. Mickey beendet das Trauerspiel mit einem richtig billigen Zählreim. Drei Totalausfälle - und ein schwerer Blechschaden kommt noch hinzu: "Demon Bitches". Auf jeden Fall ein guter Songtitel, mit dem kommerziell untauglichsten Video überhaupt, das aus Splatter und den Lyrics als Outro-Credits besteht (35.000 Views, das Plattenlabel freut sich). Nicht nur eine Qual für die Augen, das Stück ist quasi unhörbar. Brooke Candy kann nach wie vor nicht rappen, ihr verzerrtes Stimmchen fügt sich gut ein in die nervige Sound-Piepserei. Aber: Der tolle Moon Bounce macht am Ende seine Sache gut und lässt erahnen, was für ein feines Gespür Lee für Melodien hat.
Damit kommen wir zum besten Part dieses Leviathans an Album, dem Pop-Teil. "Tops" mit Push Push ist ein ganz hervorragender Song. Der Beat erinnert an Evil Nine, ein ganz dickes Ding mit umwerfendem Bassdrop und hervorragendem Refrain. Push Push rappt zwar, der Song lebt dank Call-Sample und fetten Tribal-Drums aber von seiner poppigen Produktion.
Im Guten wie im Schlechten muss man sich fragen, wo Tommy die Leute für dieses Album rekrutierte. Push Push ist eine Südafrikanerin, die zuletzt 2015 für etwas internationale Aufmerksamkeit sorgte, mehr nicht. King Elle Noir, die auf "Make This Storm" und "P.R.E.T.T.Y" singt, hat keine 200 Youtube-Abonnenten. Ihre beiden Tracks sind schlicht richtig guter 2020-Pop.
Dass hier ein Relikt wie Tommy Lee Hand an den Reglern hatte, würde man den Songs nie anmerken. Dasselbe gilt für "Make It Back" mit den 2018 bescheiden erfolgreichen PLYA. Ein begrenzt origineller, handwerklich komplett vernünftiger, gut tanzbarer Mainstream-Pop der Gegenwart. Basslastig, mit sphärischen Beats, könnte das in den USA alles weit vorne in den Charts landen. "Andro" ist ein richtig seltsames Ding .
Der Schlusspunkt setzt ein desaströser Remix von "Tommy Lee", im gleichnamigen Original von Post Malone – Hangaround Tyla Yaweh. Ganz fürchterlich, sollte sich wohl anhören wie ein Update von Aerosmith und Run DMC. Billige Gitarrenwand und die weinerliche Stimme des MCs verunstalten den Song.
Dennoch: Bewundernswert, wie sehr Tommy Lee seine Glam-Komfortzone verlässt, viel mehr noch als mit seinem Vorgängerprojekt Methods of Mayhem. Wie einfach wäre es gewesen, sich in eine Lederjacke zu zwängen und ein bisschen zu solo-cockrocken, gerade nach dem Erfolg von "The Dirt" auf Netflix? Stattdessen setzt er sich hinter die Regler, bastelt Beats und hat offensichtlich eine gute Zeit.
4 Kommentare mit 5 Antworten
Dieser Kommentar wurde vor 4 Jahren durch den Autor entfernt.
"Toller Typ"
Wie genau funktioniert denn die Verjährungsfrist für dreckige Frauenschläger bei Laut.de?
mal schauen wie 24 jahren über chris brown geschrieben wird
Omg wenn es um Verfehlungen aus der Vergangenheit ginge gebe es nur noch wenige Albenrezensionen von irgend welchen Saubermännern die Balladen trällern. Bitte hört mit diesem Cancel Culture Kram auf, mit so etwas könnt ihr gleich den Pranger wieder einführen und mit faulem Gemüse schmeissen.....was euch nicht besser als den Täter macht...
hier Franz- eine ganz muessige Diskussion waere das. laut ist ein Musikmagazin, keine gesellschaftliche oder gar staatliche Entitaet irgendeiner Art. Wo fingen wir an, "gesellschaftliche Verantwortung" zu übernehmen, wo hoerten wir auf? Rezensieren wir nur Rockbands, deren Frontmaenner gute Vaeter sind und die AdBlue tanken? Was ist mit Vorstrafen wegen Drogenbesitz? Was ist ein Gerichtsurteil zu haeuslicher Gewalt aus Tansania wert? Das können wir und ich als Rezensent nicht leisten und im Sinne einer freien Presse will zumindest ich das auch nicht. Aber, und deshalb danke fuer deinen Kommentar, diese Diskussion gehoert in die Kommentare. Aber red doch lieber mit deinen Mitbenutzern ueber deine Gedanken, anstatt unproduktiv dem Magazin ein cancel-culture-Bein stellen zu wollen.
Wow. Fühlt sich da wer angegriffen. Als ob bei Euch noch nie Begebenheiten aus dem persönlichen Leben der rezensierten in einer Rezension erwähnt wurden. Aber "toller Typ"? Kommt in der Rezension doch gar nicht vor? Oder wurde das nachträglich entfernt?
Unfassbar komplexer und schwer verständlicher Kommentar. Sollte wirklich nicht hier stattfinden, das ufert zu sehr aus. Ich würde vorschlagen, wir bleiben weiterhin an der Oberfläche.
Wer ist bei diesem Album eigentlich die Zielgruppe?