25. Oktober 2021

"Schmerzhafte Dinge brauchen eine Form"

Interview geführt von

Tristan Brusch gehört zu den Songwritern, die sich nicht dem Mainstream-Pop hingeben, sondern mit jeder Veröffentlichung neue musikalische Welten offenbaren. Sein neues Album "Am Rest" überrascht mit rohem Live-Sound und persönlichen Texten über Vergänglichkeit und Zugehörigkeit.

Ich bin es mittlerweile gewohnt, dass Menschen, denen ich die Musik von Tristan Brusch ans Herz legen möchte, ähnlich reagieren. "Ach, den kennt man doch durch die Orsons" oder "Hat der nicht am Maeckes-Album mitgearbeitet?". Ja, stimmt alles. Spätestens seit seinem deutschsprachigen Debütalbum "Das Paradies" (2018) sollte aber eigentlich klar sein, dass Tristan Brusch viel mehr als nur Sidekick oder Supportact ist. Sein neues Album "Am Rest", das im Oktober 2021 erscheint, macht erneut deutlich, welch besonderer Künstler hinter der Musik steckt, die zwischen Chanson, Synthie-Pop und Schlager geschickt jeder Genreschublade ausweicht. Im Interview erzählt Tristan vom Live-Sound seines neuen Albums, seinem Bild von Menschheit und Gesellschaft sowie von dem ganz eigenen Willen, den manche Songs mit sich bringen.

Wenn man in den letzten Jahren eines deiner Konzerte besucht hat, stehen die Chancen ganz gut, dass man schon den einen oder anderen Titel von "Am Rest" zu hören bekommen hat. Das lässt darauf schließen, dass die Lieder nicht gerade erst in den letzten Monaten, sondern schon vor einiger Zeit entstanden sind. Welchen Song des Albums hast du als erstes geschrieben und wann war das? Wie ist daraus ein Album geworden?

Ich glaube, das war im Herbst 2018, nachdem "Das Paradies" herausgekommen ist. Und ich glaube, der Song, den ich zuerst geschrieben habe, war "2006". Du sagst es schon, ich habe dann viele Songs auch immer wieder live gespielt und ein paar dabei auch verworfen, wie das halt immer so ist. Dann war das so, dass ich das Album unbedingt live aufnehmen wollte – letzten Sommer bin ich dann endlich dazu gekommen. Das ist jetzt also seit fast eineinhalb Jahren wieder fertig. Durch die Pandemie hatte sich das immer weiter verzögert, das ist so unfassbar zäh gerade alles.

In der Zeit, wo so ein Song fertig rumliegt, passiert ja aber auch viel und man verändert sich selbst. Fühlt sich das Album für dich trotz der vergangenen Zeit noch aktuell an oder denkst du an manchen Stellen schon wieder, dass du da jetzt alles anders machen würdest?

Ich würde jetzt auf jeden Fall wieder alles anders machen, jedenfalls vom Sound her. Aber für die Zeit, in der ich das gemacht habe, war das auf jeden Fall genau so, wie ich es gerne haben wollte. Insofern ist ein Album für mich eigentlich immer nur wie eine Fotografie eines Ist-Zustands, der einfach festhält, wie die Songs gerade so sind. Ich würde jetzt natürlich im Nachhinein nichts mehr ändern, aber würde ich die gleichen elf Songs nochmal aufnehmen, dann würde es wahrscheinlich sehr anders klingen. Bei "Das Paradies" haben wir uns damals Ewigkeiten ins Studio eingeschlossen und da wirklich über Jahre dran gearbeitet. Dadurch ist der Sound Stück für Stück gewachsen. Man hat das Grundgerüst fast schon Collagen-artig aufgenommen, immer wieder was neues draufgeklatscht und dann wieder was weggenommen. Ganz viele bunte Legosteine eigentlich. Jetzt beim neuen Album "Am Rest" ist es im Gegensatz dazu eine Live-Aufnahme. Es sollte einfach diese ganz bestimmte Stimmung in einem Sound eingefangen werden und das war's dann. Man nimmt es einmal auf und dann ist es fertig. Einfach ungeprobt habe ich ein paar Musiker ins Studio eingeladen, um denen die Arrangements zu zeigen und wie das alles so ungefähr ist, und dann haben wir das einfach so gespielt. Da sind natürlich auch Fehler drin, aber die haben wir bewusst drin gelassen. Genau so fand ich das geil. Insofern, um zurück zur Frage zu kommen: Ich bin total happy damit, wie es geworden ist, auch wenn es schon wieder so lang her ist.

Mit dem Stichwort Live-Musik hast du jetzt schon ganz viel vorweggenommen. Das ganze Album hat diesen unberührten Sound und wie bereits gesagt, hast du die unveröffentlichten Songs ja die letzten Jahre auch immer wieder auf Konzerten gespielt. Sind die dann schon fertig und warten nur auf ihre Veröffentlichung oder nutzt du die Auftritte auch, um den Live-Charakter der Songs auszuprobieren und wohlmöglich noch daran herumzuschrauben?

Man hat einfach das Gefühl, manche Songs wollen gar nicht aufgenommen werden. Sie wollen nur live gespielt werden. Wenn man die zuerst aufnimmt und dann live spielt, dann hat man das Gefühl, man hat das Pferd falschherum aufgezäumt.

Bei welchem Song war das der Fall?

Zum Beispiel bei "Dispoqueen" vom alten Album. Da haben wir uns so wahnsinnig schwer getan, das irgendwie aufzunehmen und eine Form zu finden, die cool ist. Und jetzt spiele ich das live auch immer ganz anders. Wenn man Songs live spielt, erledigen sich solche Fragen eher von vornherein, weil man sich den Songs dann einfach besser nährt, bevor man sie aufnimmt. Aber naja, manchmal klappt das auch trotzdem nicht. Bei "2006" zum Beispiel, den ich jetzt auch schon wirklich länger live gespielt habe, haben wir jetzt am Ende doch noch was ganz anderes gefunden, als wie ich es normalerweise gespielt habe. Ich finde, Songs oder Ideen sind eigentlich sowas wie Lebewesen, die ein wenig ihren eigenen Willen haben, den man nicht so richtig knechten kann. Manchmal muss man sich heimlich anschleichen, manchmal muss man ganz entschlossen sein. Mit anderen Songs wiederum muss man ganz verführerisch umgehen. Jeder Song braucht seinen eigenen Umgang.

Auf viele Leute wirkt "Am Rest" wie dein zweites Album, weil es eben erst das zweite auf Deutsch ist - und auch das zweite, das man bei den gängigen Streamingdiensten findet. In Wahrheit sieht das ja aber ein bisschen anders aus. Um das kurz richtig zu stellen: Dein wievieltes Album oder die wievielte Veröffentlichung ist das tatsächlich? Wie nimmst du das wahr?

Ganz ehrlich? Keine Ahnung, kann ich nicht sagen. Auf eine Art würde ich es jetzt aber auch schon als mein zweites Album beschreiben, eben weil es das zweite Tristan-Album auf Deutsch ist. Lieder schreiben auf Deutsch empfinde ich mittlerweile schon wie so eine "Stunde Null". Ich finde das alles, was ich davor gemacht habe, teilweise wirklich auch noch schön, mir gefällt vieles davon und ich bin auch wirklich stolz auf vieles. Aber es war einfach nicht das, was ich jetzt für Musik empfinde. Text war damals mehr so ein Beiwerk, als ich noch auf Englisch geschrieben habe. Jetzt ist es für mich runder. Ich schätze jetzt mal, dass ich davor so sechs Alben auf Englisch gemacht habe, aber man muss sich das so vorstellen, dass ich davon auch nur zwei im Studio oder so was Ähnlichem gemacht habe. Der Rest war so Bedroom-Recording-mäßig, selber gemischt und selber auf CD gebrannt. Meine Freundin damals hat ein Cover gemalt und ich hab das dann auf irgendwelchen Mini-Gigs verscherbelt. Ob man das eine Veröffentlichung nennen will? Wenn ja, dann habe ich wirklich unfassbar viele Alben gemacht (lacht).

Klingt aber so, als wärst du glücklich mit dem Status Quo, dass du für deine deutsche Musik bekannt bist. Oder würdest du dir noch einmal wünschen, auch mit deiner englischen Musik mehr Gehör zu finden?

Ne, das passt voll so, wie es ist. Ich hab die alten Sachen ja sogar rausnehmen lassen bei den Streamingplattformen, bevor die "Fisch" EP rauskam. Da habe ich bei allen alten Labels angerufen und die gefragt, ob die das bitte rausnehmen können.

Mit "Am Rest" hast du noch einmal einen neuen Weg eingeschlagen und sowohl inhaltlich als auch musikalisch eine Entwicklung gewagt. Was unterscheidet "Am Rest" am stärksten von deinen vorherigen deutschsprachigen Releases?

Ich wollte diesmal einfach etwas sehr unmittelbares machen. Ich wollte gerne etwas machen, das näher an mir dran ist als zuvor. Auf dem Album sind ja auch sehr viele Trennungs-Songs. Das ist alles echt, keine erfundenen Geschichten. Eigentlich habe ich mit dem Album versucht, möglichst viele Dinge wegzulassen, die von den wichtigen Dingen ablenken könnten. Ich wollte dieses reine Gefühl einfangen, statt wie sonst noch irgendwas hinzuzufügen. Wenn ich jetzt "Das Paradies" höre – ganz abgesehen davon, dass ich meine eigene Musik eh nicht gerne höre – würde ich jetzt darüber sagen, dass das so krass bunt ist. Da passiert so viel auf einmal in den Instrumentals. Wenn ich jetzt die neuen Sachen höre, dann ist das so, dass da eigentlich fast schon zu wenig passiert. Und genau so wollte ich es diesmal haben von der Produktion her. Thematisch ist es vielleicht düsterer, einfach weil ich diese Trennung hinter mir habe. Das bringt einen an neue Orte.

"Wenn man sich eigentlich sicher ist, dass das, was man sagen will, auch so rüberkommt, dann kann man das auch einfach mal leiser sagen"

Hast du dich mit diesem Ziel an das Album gesetzt? Düsterere Musik machen als vorher?

Nein, das war nicht kalkuliert, dass ich düsterer oder realer werden will oder so. Als ich "Das Paradies" gemacht habe, habe ich mich so gefühlt, wie sich das Album eben anhört. Jetzt fühle ich mich wie "Am Rest", beziehungsweise, vor einem Jahr habe ich mich so gefühlt. Insofern ist meine Musik immer ein bisschen als Spiegel meiner Seelenreise zu betrachten.

Für das Album hast du mit dem Produzenten Tim Tautorat zusammengearbeitet, den man bereits aus erfolgreichen Zusammenarbeiten mit Herbert Grönemeyer, Annenmaykantereit oder Faber kennt. Welchen Einfluss hatte Tim auf das Album? Was wäre ohne ihn anders gelaufen?

Also erstens Mal kann er einfach super gut aufnehmen. Der weiß ganz genau, was er machen muss, ein krass guter Engineer. Wie das Mikrofon stehen muss, wie man einen Raum dazu bringt, gut zu klingen, was vorteilhaft und was weniger vorteilhaft ist – der Mann weiß wirklich alles. Er hat aber besonders krasse Erfahrung darin, live aufzunehmen. Insofern hatte er also einen wirklich starken Einfluss. Außerdem hat er so die Mimikry eines arroganten Schnösels, weil er immer einen Anzug trägt und vermeintlich überheblich über vieles redet. Dabei ist er eigentlich der allerliebste Typ der Welt, er ist so unglaublich höflich auch. Im Studio hat er einfach die Gabe, mich so unglaublich komfortabel fühlen zu lassen. Er kann einen so gut stützen, wenn man singt, er macht dabei so gute und so feine Anmerkungen. So sensibel, ohne dass es einem zu nahe geht, zeitgleich aber akzentuierte Kritik. Die Platte wäre einfach wirklich ganz anders ohne Tim Tautorat, ich bin richtig happy, den kennengelernt zu haben.

Hast du zu irgendeinem Zeitpunkt darüber nachgedacht, das Album selbst zu produzieren? Musiktheoretische Ahnung hast du ja, selbst aufgenommen hast du dich auch schon und zum rohen, ehrlichen Stil des Albums hätte so eine DIY-Produktion auch gepasst.

Natürlich hätte ich auch alles selber aufnehmen können, aber ich denke, dann hätte es nicht mehr authentisch, sondern einfach nur schrottig geklungen. Das Album hat zwar so eine gewisse Roughness, aber es ist schon alles richtig ordentlich aufgenommen. Außerdem mag ich das schon irgendwie, wenn jemand von außen ein bisschen guckt. In dem Moment, in dem ich live spiele, ist das für mich ja wie ein Konzert. Da kann ich nicht gleichzeitig objektiver Beobachter sein, dann geht was flöten. Ich kann nicht gleichzeitig Schauspieler und Regisseur sein. Ich muss einfach so ganz tief in dieses Gefühl reingehen und dann muss mir jemand von außen sagen, ob irgendwas zu viel oder zu wenig war. Wenn ich von vornherein beim Singen schon denke, ob das zu viel war und dass ich mir das gleich direkt noch einmal anhören muss, dann würde man das hören, dass ich nicht bei der Sache war.

Man merkt deutlich, dass du eine genaue Vorstellung davon hast, wie deine Produktion ablaufen soll. Auf dem Album geht es ja aber auch immer wieder darum, Fehler zu machen und mit Unsicherheiten umzugehen und sich schließlich daraus weiterzuentwickeln. Was für Unsicherheiten hast du während der Produktion an dir selbst bemerkt oder was hast du daraus Neues über dich und deine Kunst gelernt?

Ich habe aus diesem Album ein Stück weit gelernt, auf das zu vertrauen, was in meinen Augen meine entscheidenden Qualitäten sind. Einfach mehr auf mein Gefühl zu hören. Nicht nur in der Produktion, sondern auch inhaltlich gesprochen. Wenn man merkt, irgendetwas nährt sich einem Ende, aber man möchte das eigentlich nicht wahrhaben. Dann macht man eigentlich immer ein riesiges Brimborium, obwohl man weiß, dass das nichts mehr bringt. Es ist ein gutes Stück Arbeit, da hinzukommen, wo man einsieht, dass man sich bei sowas auf sich selbst und die eigene Intuition verlassen kann. Auf eine Art ist das reduzierte Soundgewand auch so ähnlich. Ich wollte die Songs für sich sprechen lassen, die Melodien und die Texte einfach roh lassen statt davon abzulenken, was man eigentlich sagen wollte. Wenn man das Gefühl hat, das, was man sagen will, ist nicht ganz getroffen, dann versucht man an einer anderen Stelle häufig zu kompensieren, indem man lauter ist oder sonst was. Wenn man sich aber eigentlich sicher ist, dass das, was man sagen will, auch so rüberkommt und die Wahrheit ist, dann kann man das auch einfach mal leiser sagen.

Neben diesen persönlichen Gefühlen, die du da verpackt hast, beobachtest und beschreibst du auf dem Album auch vieles, das um dich herum passiert. Ein wiederkehrendes Motiv sind die Stadttauben, Kanalratten und zwischenzeitlich auch mal Fliegen. Was bedeuten diese Tiere für dich?

Die Tauben sind so ein bisschen die Schutzpatrone des Albums. Die ernähren sich von Resten und von Übriggebliebenem. Die haben etwas Nostalgisches, aber auch etwas Ekelhaftes. Sie haben einen schlechten Ruf, wirken dreckig. Wenn man genauer hinschaut, sind die aber eigentlich sehr, sehr schön. Natürlich geht es dabei nicht wortwörtlich um Tauben, sondern sie stehen für gewisse Dinge – kann man sich jetzt denken. Aber dazu direkt eine Anekdote: Ich habe ein Studio in der Forster Straße in Berlin-Kreuzberg. Als ich dort das Album geschrieben habe, kamen die Tauben immer zu meinem Fenstersims und haben da gegurrt, während ich auf dem Sofa Gitarre gespielt habe. Das fühlt sich alles ein bisschen an, als ob diese Tiere die Begleiter für die Lieder waren.

"Ich liebe Musik, die zwar melancholisch ist, aber die einen auch hoffnungsvoll hinterlässt - die reine Depression interessiert mich nicht"

Fern von Metaphern und Motiven ist hingegen der sehr explizite Song "Schönleinstraße", in dem du dich in die Rolle einer obdachlosen Person begibst. Ist das eine fiktive Geschichte oder gibt es tatsächlich diese eine Person in der Kreuzberger U-Bahn, die dich inspiriert hat?

Das ist tatsächlich der einzige Song auf dem Album, der nicht konkret nachempfunden ist. Der ist ja so explizit geschrieben, dass man meinen könnte, diese Person gibt es wirklich, aber das stimmt nicht. Ich bin ja eigentlich ein Kleinstadtjunge, aus Tübingen in Süddeutschland. 2008 bin ich nach Berlin gezogen und ich habe mich bis heute noch nicht daran gewöhnt, dass es hier so viele Obdachlose gibt. Es gibt hier so viele drogenabhängige Personen und solche, die irgendwie dazwischen sind, die vielleicht ein Zuhause haben aber die auf irgendwas hängengeblieben und den ganzen Tag draußen auf den Straßen sind. Das häuft sich in Berlin so krass, und trotzdem habe ich da keinen Schutzpanzer entwickeln können bisher. Mir geht das immer furchtbar nah. Insofern ist das Lied "Schönleinstraße" wie eine Art Aufsummierung meiner Erfahrungen.

Wie schwer oder leicht fiel es dir, diesen Song zu schreiben? Solang du nicht selbst einmal auf der Straße gelebt hast, ist das ja eine für dich erstmal fremde Perspektive. Wie kann man sich in diese Lage versetzen und die entsprechenden Worte dafür finden?

Das stimmt, ich war nie obdachlos. Nur wohnungslos war ich einmal, da konnte ich aber immer bei Freunden auf der Couch schlafen oder so was. Aber ja, genau dieses Gefühl habe ich natürlich nicht erlebt. Ich hatte nicht selten in meinem Leben die Situation, dass ich zum Geldautomaten gegangen bin und nicht wusste, ob da jetzt noch ein Zehner rauskommt oder nicht, weil ich wirklich faktisch kein Geld hatte. Da fühlt man sich manchmal gar nicht so weit weg von den Leuten, die auf der Straße leben – obwohl das natürlich Quatsch ist, ich bin meilenweit davon weg. Aber ich hab mich einfach oft genug im Leben von dieser Situation bedroht gefühlt und fühle mich bis heute eigentlich auch nicht sicher davor. Ich könnte niemals mit Sicherheit sagen, dass es mir immer gut gehen wird und dass sich da nicht ein Abgrund auftun könnte.

Die Gesellschaftskritik, die auf "Schönleinstraße" durchdringt, ist auch für andere Songs relevant. Am deutlichsten wird das auf "Krone der Schöpfung", wo du humorvoll zu dem Schluss kommst, dass Menschen viel eher die "Krone der Scheiße" als irgendetwas anderes sind. Kurzer Abstecher in die Philosophie: Was ist dein Bild von Menschen und der Gesellschaft? Glaubst du, wir sind von Natur aus schlecht?

Ich bin eigentlich schon ein Menschenfreund, auf jeden Fall. Ich liebe Menschen eigentlich, Menschen sind oftmals herrlich. Aber ich glaube, dass das die Ambivalenz ist, die wir aushalten müssen. In manchen Momenten sind Menschen ganz toll und manche Personen sind für andere Menschen speziell etwas ganz Tolles. Gleichzeitig machen wir die Erde kaputt; nehmen wir jemandem den Platz weg, der es mehr verdient als man selbst. Wir sind für Kriege verantwortlich und so weiter, you name it. Es ist einfach nicht schwarz-weiß. Oder auch diese unfassbare Grausamkeit, Fleisch zu essen. Was das für ein unfassbares Leiden ist, das man schulterzuckend hinnimmt. Es gibt Momente, da denke ich, wie krass ist das alles? Und im nächsten Moment hat Oma was gekocht, das ich dann halt esse. Da habe ich auch diese Ambivalenz in mir selbst. Bei "Krone der Schöpfung" steckt das alles drin. Außerdem hat der Song vor allen Dingen Spaß gemacht beim Schreiben. Ich wollte diesem schrecklichen Thema so eine Art von Humor und Leichtigkeit geben.

Im Großen und Ganzen befasst sich das Album neben diesen konkreten Themen aber immer noch mit dir und deiner persönlichen Geschichte. "Das Leben ist so schön" erzählt von deinen ersten 13 Lebensjahren, "2006" vom Tod einer geliebten Person und "SM Jugend" von jugendlichen Erwartungshaltungen an Sexualität. Wie viel Tristan-Brusch-Biografie steckt tatsächlich in all diesen Erzählungen?

Alles ist real. In "Am Rest" steckt wirklich kein Stück Kunstfigur. Das ist alles genau so, wie es ist. Ich wollte keine Kunstfigur sein, nur ganz nah und ehrlich sein.

Klingt, als fällt es dir leicht, dich lyrisch so nackt zu machen. Oder überlegst du doch manchmal, ob du manche dieser persönlichen Geschichten lieber für dich behalten solltest?

Ne, ich glaube, dafür bin ich dann doch zu narzisstisch (lacht). Da habe ich wirklich nie drüber nachgedacht.

Ich finde diesen Balanceakt total spannend. Auf der einen Seite erzählst du von super persönlichen Kindheitserinnerungen, auf der anderen Seite höre ich das als Zuhörerin und nicke mit dem Kopf, weil ich mir denke: Ja, geht mir auch so.

Das freut mich wirklich sehr! Aber ja, ich habe das wirklich schon alles so geschrieben, dass das allgemeine Plätze veranschaulicht, wenn man sich mal die Strophen von "Das Leben ist so schön" anschaut. Wenn die Eltern sich streiten und das Kind dann abhaut, weil es das nicht aushält - das haben sicher mehr Leute erlebt als nur ich. Oder dass man als Teenager heimlich saufen geht, das ist nicht meine alleinige Erinnerung. Aber sie ist trotzdem meine.

Deine letzten Worte auf dem Album sind tatsächlich auch "Das Leben ist so schön". Dafür, dass das Album eher unbequeme Punkte abarbeitet, ein sehr harmonischer Schluss. Warum hast du dich für diese Wendung in der Tonalität entschieden?

Mir ist irgendwann klar geworden, dass das ein krass düsteres Album ist. Ich empfinde mich selbst aber gar nicht als so düsteren Typen. Ich liebe Musik, die zwar melancholisch ist, aber die auch einen auch hoffnungsvoll hinterlässt – die reine Depression interessiert mich nicht so sehr. Ich benenne diese ganzen schmerzhaften Dinge ja, damit es eine Form hat und man diese Form wiederum irgendwo abstellen kann. Das ist besser, als wenn die Dinge so herumwabern. Ein Stück weit ist so ein Lied natürlich auch Selbsttherapie. Mein Ziel ist es aber natürlich auch, Glück und Hoffnung zu empfinden. Und das gelingt mir da, denn ich bin da auch einfach komplett ehrlich. Ich finde wirklich, dass das Leben sehr, sehr schön ist.

Vor fünf Jahren hast du bei DIFFUS im Interview erzählt, dass du von dir selbst glaubst, Pessimist zu sein. Klingt jetzt gar nicht mehr danach.

Ich bin seitdem Vater geworden – ich kann es mir jetzt gar nicht mehr leisten, Pessimist zu sein (lacht). Aber interessant, dass du das rausholst, weil… okay, das finde ich wirklich interessant gerade. Lass mich kurz denken… nein, ich bin kein Pessimist mehr. Das ist doch ganz gut.

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Tristan Brusch

"Ich bin ein Fisch in kochendem Wasser, ich bin ein Schneemann in the sun / Und irgendwann macht dir nicht mal das mehr Angst, macht dir nichts mehr Angst", …

Noch keine Kommentare