laut.de-Kritik

Tolle Orgel-Riffs, historische Akribie und Hippies mit Härte.

Review von

Mitte August, Sommerloch. Major-Plattenfirmen und MTV überschlagen sich in der Würdigung des 50. Hip Hop-Geburtstages unter größtmöglicher Auslassung des Frauenanteils an dieser Kulturgeschichte. Eine gute, repräsentative Compilation zu diesem Jahrestag ist schwer zu finden. Doch ein anderer Tag, der alle paar Jahre Mitte August begangen wird, kennt so einige gute History-Sampler. Flowerpower und Polit-Folk trafen in Woodstock auf psychedelische Zustände im Publikum und psychedelische Gitarrenriffs auf der Bühne. Dem Ereignis 1969 gingen aber nicht nur die '68er-Revolten, sondern schon bedeutende musikalische und gesellschaftliche Strömungen 1966/67 voraus, in den USA speziell das legendäre Monterey Pop-Festival 1967. Wobei Populärmusik und Society selten so krass und so stark wechselseitig pulsierend miteinander verbunden waren.

Welche Musik speziell in den USA dabei prägend war, zeigt der beste Sampler, der mir in den letzten zwölf Jahren in egal welchem Genre vorgelegt wurde: "March Of The Flower Children: The American Sounds Of 1967", ein Edelstein-Paket in Form von drei silbernen Scheiben und einem Booklet von fast 50 Seiten, profunde zusammen gestellt, mit schöner Musik, ausnahmslos schön oder zumindest in ihrer Machart (und nicht nur historisch) interessant. Auch hier fehlen übrigens Frauen komplett, was aber in dem Fall wohl halbwegs der Szene geschildert war und einigermaßen dokumentarisch getreu ist. Aber auch da gäb's sehr relevante Ausnahmen (Nancy Sinatra, Grace Slick). Abgesehen davon muss vor allem eine Bedingung erfüllt sein, um diese Compilation sofort zu lieben: Man sollte Orgeln mögen. Hart wird's, wenn diese alten Keyboard-Kästen mit verwaschenem Sound damals nur noch Schlieren ziehen und einen Derwisch-Tanz aufführen wie bei den "Blues Magoos - Pipe Dream".

Auch nicht verkehrt wäre, wenn man "Revolver" toll findet, denn diese Sammlung ist der Ära gemäß vorwiegend psychedelisch durchtränkt. In entsprechende Ästhetik eingekleidet, erkennt man Arethas Hit "Respect" praktisch kaum wieder, wär da nicht der Text im Gekeife von "The Vagrants - Respect". Wo der Hip Hop schon Eingangs erwähnt ist: Klein ist die Welt, und dieser wilde Organist, Jerry Storch, ließ das Hauen in die Tasten in der Familie: Sein Sohn ist der erste Keyboarder der Roots, der mit Erykah den Song "You Got Me" verantwortete und danach eine lange Hit-Strecke hin legte, zuletzt bei Kollegah in "Löwe" auftauchte.

Das meiste Material ist sehr eingängig. Und so sehr die meisten Bands spleenige Umwege bespielen, die Songs springen einen sehr direkt an - bitte einsteigen in die Zeitkapsel!

Mit wichtigen Bands, viertrangig bekannten Songs dieser VIPs, aber auch extrem vielen Underground-Tipps, die aber nicht mit exzentrischer Nerdigkeit punkten, sondern im Herzen der Bewegung eine Rolle spielten. Es gibt keinen einzigen Hit hier drauf, der bekannteste Song dürfte noch der letzte in der Tracklist von 85 Stücken sein, "The First Edition - Just Dropped In (To See What Condition My Condition Was In)", von der ersten Band des späteren Countrypop-Stars Kenny Rogers, oder "The Young Rascals - Groovin' (Single Version)".

Um inmitten von 85 (traumhaft guten) Tracks ein bisschen Orientierung zu gewinnen, folgende Anspieltipps: "The Zakary Tanks - Mirror Of Yesterday", "The Zodiac - Aries", das hat ein scharfes Orgel-Intro, Zauberspruch-artige Spoken Word-Passagen, "lost in smoke, vehementeste Trommelschläge, Anklänge von Ravi Shankar. Der Lennon-Freund und Storyteller "Nilsson - 1941" bringt eine eigene Spielart rein. Sehr, sehr gut performen "The Chambers Brothers - Time Has Come Today".

"The Seeds - March Of The Flower Children (Single Version)" baut Stromstöße oder kleine Explosiönchen ein, dazu meldet sich kontrastreich der allerlieblichste Gesang. Im Vergleich schneiden altgediente(re) Gruppen anno '67, The Byrds oder The Everly Brothers, mit den konventionellsten Beiträgen weniger gut ab.

The Rare Breed wussten wohl schon, dass ihre Musik mal sehr rar sein würde. Sie faszinieren mit einem schicken und soundtechnisch großartig eingefangenen Bass-Leitmotiv. Dazu gleitet ein Orgel-Flow. Der hört sich so süß an, dass man die Hammond am liebsten gleich knuddeln würde und sich rein musikmarkttechnisch wünscht, doch in dieser Zeitspanne gelebt zu haben. "The Rare Breed - I Talk To The Sun" ist ein Zwiegespräch mit der Sonne, und was sie liebestechnisch rät - für damalige Verhältnisse absolut kein abgefahrener Text.

Ausflüge statt in der "Penny Lane" in der "Penny Arcade" mit Luftballons, Händchen haltend, mit Klarinette, Teen-Pop war damals musikalisch mitunter anspruchsvoll und an Klassik angelehnt - und im Umkehrschluss zu der allgemeinen Annahme, man habe sich zwischen Liverpool, Leeds und London alles von Amerika abgelauscht, finden sich einige US-Kopien britischer Beatpop-Stilistik.

"The Rose Garden - Next Plane To London" spricht diese England-Sehnsucht ganz direkt an und fiebert dem nächsten Flug nach Heathrow entgegen. In den Worten des Booklets, wo auf mehrere Liedtitel angespielt wird "Tatsächlich erreichte der 'March of the Flower Children' sein Crescendo während des so genannten Summer of Love von 1967, als San Francisco das neue Liverpool wurde und die westliche Welt endlos 'groovin' on a sunny afternoon' war, 'gentle people flowers in their hair' trugen und proklamiert wurde: 'all you needed was love'."

Vielleicht dann doch noch mehr Handfestes außer Liebesschwüren: Wie viel LSD wohl für die Aufnahme von "NGC-4594 - Going Home" eingeworfen wurde? "crazy games with dollars and cents sagt das Stück den Kampf an, aber ziemlich cheesy eingelullt wirken dazu die Musiker. Besonders sweet klingen die kompakten und kurzweiligen Mini-Garage-Nuggets von je zwei Minuten Dauer: "Thursday's Children - Help, Murder, Police".

Herausragend an der umfassenden CD-Box, die gerade so die richtige Länge hat, so richtig herausragend ist ihr Genre-übergreifendes weitwinkliges Verständnis von dieser Musik des Jahres 1967. Es geht straight um das, was für jenes Jahr neuartig, progressiv, kennzeichnend war, verhält sich dazu aber wertneutral offen: Zwischen größeren Namen (Grateful Dead, Buffalo Springfield, Love) und kleineren Acts, vom jedem nur einen Song, und in lehrreicher Bandbreite.

Hörspielartiges wie die Aliens-Story von "Kim Fowley - Strangers From The Sky", mit Surren, Fiepen, Schnurzen, Schnalzen, Getröte findet seinen Platz. Monumentales Keifen im melodramatischen Rahmen ("Sonny - Pammie's On A Bummer") gehört genauso dazu wie Blues-Entlehntes oder früher Electric Bluesrock wie "The Id - Boil The Kettle, Mother" oder "The Blues Project - No Time Like The Right Time". Ebenso wie Barockpop von "Tim Rose - Morning Dew", nicht zu verwechseln mit der Band "The Morning Dew - No More". Avantgarde (Captain Beefheart), Rock'n'Roll-Nachwehen ("Moby Grape - Fall On You"), heavy stuff von Steppenwolf, etliche wie die Chamber Brothers entwuchsen Folk-Locations, und außer all dem ist leichte Kost vertreten.

Das informative Booklet enthält informative 48 Seiten in einer Mischung aus Lexikon und Fotoalbum. Zu fast jeder Band findet sich außer den Plattencovern auch ein Gruppenfoto, die Herkunftsgeschichte und eine Einordnung des Song-Picks ins Gesamt-Oueuvre. Zwischen den Zeilen wird's ab und an auch ironisch. Etwa mit Blick auf die astrologische Gläubigkeit, wie sie sich in den Gruppennamen Zodiac und Sagittarius oder einem Songtitel wie "Astrologically Incompatible" abzeichnet. Alle Booklet-Einträge sind schön gestaltet und von angenehmer Informationsdichte. Aber auch ohne dieses Begleitschreiben, erfüllt die Sampler-Box ihren Auftrag. Sie erzählt, dass weitaus nicht nur in Kalifornien die Hippie-Welle 1966/67 überschwappte. Die Musizierenden stammen neben den üblichen Metropolen am Puls der Musiktrends (San Francisco, L.A., New York, Chicago) auch aus Ohio, Kansas, Texas, Indiana, Arkansas, Washington, Michigan, Connecticut - eine Combo sogar aus Kanada, sie wanderte nach Cali ein.

Unterm Strich: Ein ganz starkes Teil aus einer fruchtbaren - mit dem Vietnamkrieg gleichwohl furchtbaren - Phase der US-Gesellschaftsentwicklung. Empfohlen sei, um in die Stimmung dieser Ära zu kommen, der Film "Die Reifeprüfung" ("The Graduate") mit Dustin Hoffman und Anne Bancroft, der zeitgleich mit einem Soundtrack von Dave Grusin und Simon and Garfunkel entstand.

Zusammen gestellt hat diese Box Dave Wells, Label-Manager für Psychedelic Pop. Der muss einen Traum-Job haben, den ganzen Tag alte Archive durchwühlen und nach Perlen tauchen; aber auch lästige Lizenzanfragen durchfechten, Fotorechte klären. Auf die Verzahnung mit der Soul-Historie hätte man durchaus noch eingehen können, in Musikauswahl und Infos. Motown gibt's sowieso mit den legendären Vanilla Fudge, leider in der kurzen Version von deren "You Keep Me Hangin' On.

Eine Zeit, in der Bands auf Namen wie "Die Erdnussbutter-Verschwörung" ("The Peanut Butter Conspiracy - It's A Happening Thing"), Fapardokly ("Fapardokly - Lila"), Zitronennebel wenn nicht gar Zitronen-Lutschbonbons ("Lemon Fog - Echoes Of Time", "The Lemon Drops - I Live In The Springtime ('Drum' Version)" lauteten. Oder "Erdbeerwecker" ("Strawberry Alarm Clock - Rainy Day Mushroom Pillow"), Pfefferminz-Koffer-Firma ("The Peppermint Trolley Company - It's A Lazy Summer Day") oder Doppler-Effekt ("The Doppler Effect - God Is Alive In Argentina"), benannt nach einer physikalischen Gesetzmäßigkeit, die man sich heute bei Schwangerschafts-Screenings zunutze macht. The Doppler Effect brachten es jedoch nur auf diese eine Single. Viele Leute gehen in die Musikbranche, weil sie genau keine Fans von Physik sind, aber bei den Hippie-Bands galt eben der alte Werbe-Slogan 'Alles ist möglich'.

Trackliste

CD1

  1. 1. The Peanut Butter Conspiracy - It's A Happening Thing
  2. 2. Love - !Que Vida!
  3. 3. The Monkees - She Hangs Out
  4. 4. The Cryan' Shames - Mr. Unreliable (Single Version)
  5. 5. Tim Rose - Morning Dew
  6. 6. The Spike Drivers - Strange Mysterious Sounds
  7. 7. Blues Magoos - Pipe Dream
  8. 8. The Blues Project - No Time Like The Right Time
  9. 9. The Youngbloods - Merry-Go-Round
  10. 10. Kim Fowley - Strangers From The Sky
  11. 11. The Troyes - Love Comes, Love Dies
  12. 12. The Id - Boil The Kettle, Mother
  13. 13. Thursday's Children - Help, Murder, Police
  14. 14. The Beau Brummels - Two Days 'Til Tomorrow (Single Edit)
  15. 15. The Vagrants - Respect
  16. 16. The Grateful Dead - The Golden Road (To Unlimited Devotion)
  17. 17. The Sound Barrier - Hey, Hey
  18. 18. Paul Revere & The Raiders - Him Or Me - What's It Gonna Be?
  19. 19. The Lovin' Spoonful - Six O'Clock
  20. 20. The Young Rascals - Groovin' (Single Version)
  21. 21. Harpers Bizarre - Come To The Sunshine
  22. 22. The Mothers Of Invention - Why Don't You Do Me Right
  23. 23. The West Coast Pop Art Experimental Band - Transparent Day (Single Mix)
  24. 24. The Morning Dew - No More
  25. 25. The Kaleidoscope - Egyptian Gardens
  26. 26. The Blue Things - You Can Live In Our Tree
  27. 27. Eternity's Children - Can't Put A Thing Over Me
  28. 28. The Human Expression - Optical Sound (Promo Version)
  29. 29. The Skandals - House Of Painted Glass
  30. 30. Chad & Jeremy - Rest In Peace (Single Edit)

CD2

  1. 1. The Zodiac - Aries
  2. 2. Vanilla Fudge - You Keep Me Hangin' On
  3. 3. The Electric Prunes - Hideaway
  4. 4. The Red Crayola - Hurricane Fighter Plane
  5. 5. Moby Grape - Fall On You
  6. 6. The Stone Poneys - Evergreen Part One
  7. 7. The Seeds - March Of The Flower Children (Single Version)
  8. 8. The Byrds - Lady Friend
  9. 9. The Rare Breed - I Talk To The Sun
  10. 10. The Liberty Bell - That's How It Will Be
  11. 11. NGC-4594 - Going Home
  12. 12. The Tokens - It's A Happening World
  13. 13. The Peppermint Trolley Company - It's A Lazy Summer Day
  14. 14. The Cyrkle - Penny Arcade
  15. 15. The Everly Brothers - Mary Jane
  16. 16. The Raggamuffins - Parade Of Uncertainty
  17. 17. The Lemon Drops - I Live In The Springtime ('Drum' Version)
  18. 18. Tim Buckley - Morning Glory
  19. 19. The Tokens - Little Toy
  20. 20. The Parade - She's Got The Magic
  21. 21. The Rose Garden - Next Plane To London
  22. 22. Captain Beefheart & His Magic Band - Electricity
  23. 23. Dutch Masters - The Expectation
  24. 24. The Endd - Gonna Send You Back To Your Mother
  25. 25. The Doppler Effect - God Is Alive In Argentina
  26. 26. Tommy Roe - Paisley Dreams
  27. 27. Sonny - Pammie's On A Bummer

CD3

  1. 1. The Balloon Farm - A Question Of Temperature
  2. 2. Richard Pash & The Back Door Society - I'm The Kind Of Guy
  3. 3. The Gates Of Eden - No One Was There
  4. 4. The Merry-Go-Round - She Laughed Loud
  5. 5. Buffalo Springfield - Bluebird
  6. 6. The Free Design - The Proper Ornaments (Single Mix)
  7. 7. Nilsson - 1941
  8. 8. Strawberry Alarm Clock - Rainy Day Mushroom Pillow
  9. 9. Culver Street Playground - East River Lovers
  10. 10. Steppenwolf - The Ostrich (Single Version)
  11. 11. Lost & Found - Foreverlasting Plastic Words
  12. 12. The 13th Floor Elevators - She Lives (In A Time Of Her Own)
  13. 13. Summer Snow - Flying On The Ground
  14. 14. Tommy Boyce & Bobby Hart - I Wonder What She's Doing Tonight
  15. 15. Jan & Dean - Love And Hate
  16. 16. The Jackson Investment Co. - Not This Time
  17. 17. Georgy & The Velvet Illusions - Lazy
  18. 18. Lemon Fog - Echoes Of Time
  19. 19. The Bonniwell Music Machine - Astrologically Incompatible
  20. 20. Fapardokly - Lila
  21. 21. Clear Light - Sand
  22. 22. The Velvet Underground - White Light/White Heat
  23. 23. The Zakary Tanks - Mirror Of Yesterday
  24. 24. The Chambers Brothers - Time Has Come Today
  25. 25. Jim & Jean - Time Goes Backwards
  26. 26. Sagittarius - Another Time
  27. 27. The Critters - A Moment Of Being With You
  28. 28. The First Edition - Just Dropped In (To See What Condition My Condition Was In)

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