laut.de-Kritik
How the North West was won.
Review von Michael SchuhSchon das Artwork stellt klar: Ohne Nirvana geht es nicht. Auf der Tracklist zwar schon, nicht aber, wenn es um die Dokumentation einer Musikrichtung geht, die die Stadt Seattle Anfang der 90er Jahre orkanartig auf die Musik-Landkarte wehte. Wie kreativ die Szene im weiten Umfeld der nordwestamerikanischen Pazifikstadt seinerzeit tatsächlich war, hört man nach Meinung der Verantwortlichen dieser Doppel-CD nämlich nicht nur auf den Alben "Nevermind", "Ten" oder "Superunknown".
"No Seattle: Forgotten Sounds Of The North-West Grunge Era 1986-97" versteht sich als Perlentauchgang in eine Szene, die ohne Vorankündigung mit einer bis heute schwer nachvollziehbaren Geschwindigkeit vom Mainstream verschluckt wurde. Vor allem die Vielfalt der Bands links und rechts von Sub Pop und K Records liegt den Machern der Compilation am Herzen. Haufenweise gute, wenn auch unbekannte Bands gründeten sich in den 80ern in Aberdeen, Montesano, Olympia, Bellingham, Tunwater oder Tacoma.
Aber was heißt schon unbekannt: Immerhin 17 der 23 hier vorstelligen Formationen standen zwischen 1987 und 1993 gemeinsam mit Nirvana auf der Bühne, alle 23 führen Mitglieder, die schon einmal mit Nirvana aufgetreten sind. Es handelte sich um eine Szene, in der sich die meisten Musiker kannten, teilweise auch, weil sie in mehreren Combos tätig waren.
Tad, für die Nirvana 1989 in Europa eröffneten, hießen ursprünglich Bundle Of Hiss, bei denen auch Mudhoney-Drummer Dan Peters im Line Up stand. Der '88er-Track "Wench" ist rauer Alternative-Rock mit leichtem Metal-Einschlag, bringt also schon alle Zutaten mit, aus denen später das Grunge-Rezept entstehen sollte.
Die Underground-Szene des Nordwestens entwickelte sich Anfang der 80er Jahre, wenn auch niemand vom anderen wusste. Die Wege waren einfach viel zu weit, als dass etwa ein Mark Lanegan in Ellensburg hätte wissen können, welche Bands in Redmond gerade angesagt sind.
Gemeinsam war jedoch allen die relative Isolation des Bundesstaates. In den 80ern vermieden es die meisten Bands aus Kosten- und Zeitgründen, den abgelegenen Nordwesten in den Tourneeplan aufzunehmen, wo ohnehin nur ein überschaubares Publikum zu erwarten war. Die Jugend reagierte und versuchte sich an einem eigenen Stil, der Punkrock, Heavy Metal und Hardcore in mehr oder weniger ausgeprägter Art und Weise vermischte.
Diese Bandbreite findet sich auf dem Sampler wieder: Helltrout zählten beispielsweise zu den härtesten Bands aus der Gegend um Olympia, der Metal-Track "Precious Hyde" lässt daran wenig Zweifel. Drummer Dave Foster war Nirvanas dritter Schlagzeuger und spielte 1988 mit Cobain und Co. die erste Seattle-Show.
Chemistry Set erinnern im '87er-Track "Fields" an R.E.M., im Mittelpunkt des Klangbilds der Small Stairs steht eine Geige und Starfish gehen in Richtung L7. Von dem Trio wurde sogar mal ein Video in der MTV-Sendung "120 Minutes" gezeigt, "aber nur einmal", wie Sängerin Ronna Myles-Era im Booklet anmerkt. "Beverly" von Medelicious, eine Art Weezer-Track mit harten Gitarren, ist so etwas wie der Hit des Samplers.
Wie man das Soul Jazz-Label kennt, steckt viel Arbeit im Booklet: Auf 42 Seiten gibt es zu jeder Band eine Kurz-Biographie, eine informative Einführung in die Grunge-Geschichte des "I Found My Friends: The Oral History of Nirvana"-Autors Nick Soulsby, Nirvana-Querverweise und Zitate von Bandmitgliedern.
"Dieser ganze Kauf-eine-Gitarre-schreibe-Songs-finde-einen-Booker-werde-Mitglied-in-einem-Musikerverband-Weg war völlig irreal. Keinem geldgierigen Booker wäre es damals in seinem Insektenhirn eingefallen, eine Band wie Crunchbird oder Mudhoney zu verpflichten. Wir lebten in einer Wüste. Die Kids mussten alles selbst auf die Beine stellen." (Jaime Robert Johnson, Crunchbird)
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