laut.de-Kritik
Kein anderer kam Kurt Cobains Vision so nahe.
Review von Michael SchuhEinen langen Weg hat Starfotograf Anton Corbijn zurückgelegt vom introvertierten holländischen Joy Division-Fan, der 1977 die Nikon-Kamera seines Vaters stibitzte, bis zum heutigen Duzfreund von Bono und Dave Gahan. Vor allem für die Bands jener beiden Herren hielt Corbijn zum richtigen Zeitpunkt eine visuelle Sprache parat, die die Sehnsucht der Beteiligten nach einem künstlerischen Gesamtkonzept stillte und die zum Rückgrat ihrer Karriere erwuchs.
Dies gilt zwar vor allem für Depeche Mode, die vor 1986 visuell kaum mehr leisteten, als kajalgeschminkt durch Maisfelder zu rennen. Doch auch U2 hätten ihren Imagewandel 1991 ohne Corbijn (der das famose "Achtung Baby!"-Cover designte) kaum hinbekommen.
Mit dem Siegeszug von MTV Mitte der 80er Jahre erlebte der Fotograf Corbijn seinen Karrieresprung zum Regisseur. Zunächst erhielt der Autodidakt Aufträge eher unbekannter Bands, wie vorliegende DVD-Anthologie anhand der raren Frühwerke von Palais Schaumburg (1983) und Propaganda (1984) anschaulich zeigt. Zwar gehörten Palais Schaumburg damals zu einer deutschen Pop-Avantgarde, die sich nicht in den Klauen der geldgeilen NDW-Maschinerie verfing und zur Belohnung sogar Fans in New York begeisterte. Anton Corbijns Video zu "Hockey" sieht man diese große Leistung aber leider nicht an.
Dagegen sind dem Propaganda-Clip zu "Dr. Mabuse" schon einige spätere Corbijn-Trademarks zu entnehmen: eine verwaschene, grobkörnige s/w-Ästhetik, zahllose Schattenspiele, eine surreale Symbolhaftigkeit und kleine humoristische Einschübe. Jene sind ganz der Person Corbijns entsprechend vornehm und eher zurückhaltend und nie als offensichtliche Pointen inszeniert.
Insofern geht es schon in Ordnung, wenn Kollege Friedrich angesichts des stellvertretend für die späte Corbijn-Phase schwer glamourösen Videos zu "It's No Good" verwundert fragt, seit wann Depeche Mode denn bitte Humor besitzen. In jenem Clip von 1997 spielt Sänger Gahan einen schwer gebeutelten Rockstar, der in einem ranzigen Hotel auftritt, sich dabei aber noch immer für den Größten hält (also fast wie im richtigen Leben). Nebenbei feiert Corbijn hier einen Hitchcock'schen Cameo-Auftritt als Barbesitzer.
Die 80er Jahre zeigen den Regisseur weitgehend in der Experimentierphase. Die beiden Echo & The Bunnymen-Videos sind nette Zeitdokumente, von denen aber besonders die tollen Wave-Toupets der Protagonisten in Erinnerung bleiben. Joni Mitchell und Peter Gabriel entführt der Holländer 1988 in die Natur, um verschiedene Lichteffekte auszutesten. Selbst für schlechte Songs wie die Golden Earring-Nummer "Quiet Eyes" (1986) hat er noch gute Ideen parat.
Die ganze Kraft seiner Kunst entfaltet sich in jenen Momenten, in denen Corbijn die Atmosphäre eines Songs durch narrative, gerne collagenartig zusammen gesetzte Bilderstrecken zunächst um eine weitere Dimension erweitert, die dann jedoch nicht separat weiter existiert, sondern mit der bestehenden Songstimmung zu etwas noch Größerem zusammen wächst. Womit wir natürlich beim Videoclip zu Depeche Modes "Enjoy The Silence" angelangt sind, in dem Sänger Gahan als König verkleidet und mit einem Liegestuhl ausgestattet praktisch alle Jahreszeiten durchläuft, auf der Suche nach seinem Ort der Ruhe.
So sehr der Clip auch heute noch eine kunstvolle Beflissenheit ausstrahlt, fängt er die Melancholie des Songs in seiner Unmittelbarkeit doch perfekt ein und setzt märchenhafte Bilder in Bezug zum Inhalt des Songs. Dass solch eine Storyline im Jahr 1990 durchaus Mut erforderte, ruft Protagonist Gahan nochmal ins Gedächtnis, der keinesfalls vor aller Welt "wie ein Idiot aussehen" wollte und wohl nur dank des Vertrauens in Corbijns bisheriges Schaffen für seine Band zustimmte.
Dass von Depeche Mode allerdings ausgerechnet das Video zu "Never Let Me Down Again" fehlt, also das beste aus der "Music For The Masses"-Phase, ist unentschuldbar. Stattdessen kommentiert Gahan den vorhandenen "Behind The Wheel"-Clip mit Worten, die jedem Fan die schwarzen Fingernägel in die Nähe der Halsschlagader treiben dürfte: "Das hier war so um 1986 herum, glaube ich, keine Ahnung mehr, oder ist es von 'Music For The Masses'? Ja, ich denke schon!" Ich möchte an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, dass Gahan seine Bandkollegen später durchaus noch erkennt (selbst den, der heute nicht mehr dabei ist).
Der "Personal Jesus"-Clip bleibt ebenso außen vor, dafür greift Corbijn in "All These Things That I've Done" von den Killers das alte Cowboy-Thema noch mal auf. Die kruden Farbexperimente in "Walking In My Shoes" gehören zwar nicht zu meinen persönlichen Highlights, dafür schaffte Corbijn mit Henry Rollins' "Liar" und Nirvanas "Heart Shaped Box" die wohl (farb-)intensivsten Musikclips seiner gesamten Karriere.
Cobain höchstselbst weiß zu berichten, dass bis dahin noch nie ein Regisseur mit seinen Bildern "so nah an meine Vision" herankam. Huhh, einmal shiver and shake. Für Bono war der Holländer ab einem bestimmten Zeitpunkt sogar "ein fünftes Bandmitglied". Nur Nick Cave äußert sich kritisch über den Clip zu "Straight To You" (1992), wenn auch selbstkritisch: "eine unserer schlechtesten Performances".
Beeinflusst durch seine fotografischen Vorkenntnisse, drückt Corbijn allen Clips einen ganz eigenen Stempel auf, was im Vergleich zu vielen Regisseuren der "Director's Cut"-Reihe in einer beinahe behäbig wirkenden Stetigkeit zum Ausdruck kommt. Weitere Beispiele, die sein besonderes Gespür für songbegleitende Stimmungen offenbaren, sind Depeche Modes unruhiges "Barrel Of A Gun"-Video und Metallicas in sich ruhendes "Mama Said", in dem James Hetfield den lonesome rider mimt. "Bleibt Alles Anders" findet passend zum experimentellen Charakter des Grönemeyer-Songs eine recht schillernde Bildsprache.
Insgesamt also eine längst überfällige Sammlung an Videodokumenten, angereichert durch zwei kleine MTV-Promos mit Beck und Dave Grohl, einer Corbijn-Doku und massig Interviews, die darlegen, dass Anton Corbijns Enfluss auf die Popkultur auch im Clipformat nicht gering zu schätzen ist. Wenige Regisseure wussten Leere und Melancholie so schön zu visualisieren. Dass von den belgischen Front 242 auf das tolle Video zu "Headhunter" verzichtet wurde, bleibt höchstens für Insider dramatisch.
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