laut.de-Kritik

Wolfs-Schamaninnen und Tamagotchi-Sirenen.

Review von

Ich verstehe wirklich nicht, warum so etwas so selten ist. Viele K-Pop-Gruppen bauen sich ja im Laufe ihrer Arbeit ziemlich interessante ästhetische Konzepte zusammen, von mystisch und vintage bis hin zum richtig Abgefahrenem. Und so oft, wenn man sich richtig in so eine Ästhetik verschossen hat, droppen sie das Tape, nur um abseits der Lead-Single besagte Stimmung komplett in den Wind zu schießen und stattdessen einfach irgendwelche generischen Songwriter-Camp-Restprodukte auf die Platte zu hauen.

Entsprechend erleichtert bin ich, dass die Gruppe mit der im Moment coolsten Ästhetik überhaupt nicht in diese Falle getappt ist. Im Gegenteil: Die japanische K-Pop-Gruppe XG (falls das verwirrend ist, findet ihr eine Erklärung im Portrait) verwirklicht ihr bizarres Sci-Fi-Furry-Universum auf ihrem zweiten Mini-Album "Awe" vollumfänglich. Ihre soliden Wurzeln in 2000er-R'n'B und ihr für Idols quasi unvorstellbare Hip Hop-Strahlkraft wird Plattform für campy, aufregenden Y2K-Retrofuturismus. Ohne Übertreibung könnte man sagen, dass "Awe" vermutlich das beste K-Pop-Mini seit Aespas "Savage" darstellt.

Der Türöffner dürfte ist definitiv ihre mega-virale Single "Woke Up". Ich wüsste nicht, wie dieser Track einen nicht umhauen soll. Klar, Idol-Rap kann immer relativ sein, aber verdammt, das ist einfach nach allen Maßstäben der Kunst irre geil geflowt - und das quer durch sieben Frauen, die alle nicht nur auf ihre Arten und Weisen sofort einen spannenden, eigenen Flow und viel Persönlichkeit ausstrahlen. Gepaart mit dem absolut geisteskranken Video hat man hier einen Posse-Cut fürs Wolfsrudel mit tribalen Hörnern über eine DJ Mustard-eske Bassline, die jedem noch so realkeependen Hip Hop-Fan den Schweiß an die Stirn treten lassen dürfte. *

Nun haben wir Gott sei Dank keine der Situationen, wo der Titeltrack die ganze Platte tragen muss. Aus der Dichte an Titeltrack-Material hätten andere Labels drei Mini-Alben geflickt. "Something Ain't Right" macht treibenden Synth-Pop, der sofort auf die Tanzfläche einlädt. Repräsentiert das eher die futuristische Seite der Gruppe, steht "Howling" als Repräsentation ihres eigenwilligen Wolf-Dings. Fans jaulen und heulen bei den Gigs dieser Gruppe - und Tracks wie diese seltsam in ein Art Pop-Korsett gezwängte Jazz-Bassline erklären auch, wie das Spaß machen wird.

Trotzdem ist das absolute andere Juwel eindeutig der Track "IYKYK": Die aquamarinen schillernden R'n'B-Leads deuten eindeutig in Richtung 2000er-R'n'B, aber mit einer klaren Kante in den Hyperpop. Ein melancholischer Pre-Chorus materialisiert sich dann doch noch in energetischen Rap-Parts, die Chipmunk-Vocals zeichnen die extrem gelungene Steigerung ins Finale des Tracks ab.

"Awe" ist im Grunde alles, was K-Pop als Genre cool macht: XG arbeitet so virtuos mit dem Stilbruch und dem komplexen Arrangieren von teils widersprüchlichen Pop-Elementen, dass sie aus bekannten Elementen etwas absolut Frisches und Innovatives weben. Allein die Tatsache, dass die Ästhetik ein Spagat aus Wolf-Schamaninnen und Tamagotchi-Sirenen aus der Zukunft darstellt, während im Hintergrund Timbaland-R'n'B, Hyperpop und handwerklich umwerfender Rap sich die Klinke in die Hand geben, sollte doch die kreative Eigenheit dieser Gruppe außer Frage stellen.

Aber XG demonstrieren auf "Awe" nicht nur, wie einzigartig sie sind, sie zeigen vor allem, dass ihnen all diese irrwitzigen Songs auch noch der Reihe nach glücken. Keine Frage, sie gehören gerade zu den interessantesten Pop-Acts der Welt und es sollte genau niemanden überraschen, wenn sie ihr fantastisches 2024 noch um ein Weiteres steigern.

*: Aus irgendeinem Grund ist "Woke Up" auf allen Versionen des Albums durch einen seltsamen Mega-Mix mit einem irrwitzigen Haufen japanischer und koreanischer Rap-Dudes ersetzt. Das ist das Material, mit dem wir arbeiten müssen, und es ist eine der bizarrsten und dümmsten Entscheidungen, die ich je in einer Tracklist habe beobachten dürfen. Würde ich das Entsetzen darüber in mein Gesamtfazit einbeziehen, würde ich das ganze Ding eine ganze Note nach unten stoßen. Aber weil "Woke Up" offiziell zu diesem Albumzyklus zu gehören scheint und ein so essentieller Song für diese Ära ist, habe ich einfach in meinen Spotify-Playlists eine Version erstellt, in der das originale "Woke Up" Teil der Tracklist ist und ich werde fortan so tun, als wäre das die kanonische Version des Albums.

Trackliste

  1. 1. Howl
  2. 2. Howling
  3. 3. Space Meeting Skit
  4. 4. IYKYK
  5. 5. Something Ain't Right
  6. 6. In The Rain
  7. 7. Woke Up
  8. 8. Is This Love

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LAUT.DE-PORTRÄT XG

Okay, erst mal kurz zur Einordnung: Eine Gruppe Japanerinnen, die auf englisch singen, aber als K-Pop gelten? Hä? Zugegeben, der Fall XG ist speziell.

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