laut.de-Kritik
Auch die Yes-Band von heute sollte dieses Album anhören.
Review von Ulf KubankeYes 1972: Als Bill Bruford seinen Abschied nimmt, um fortan bei King Crimson die Felle zu gerben, steht der neue Mann Alan White vor einer schier unlösbaren Aufgabe. Ihm bleiben nur läppische drei Tage für das Erlernen der Setlist zur anstehenden Tour des ebenso großartigen wie erfolgreichen Meisterwerks "Close To The Edge". Dem Drummer gelingt das Übermenschliche: White spielt die Gigs derart homogen, als habe er sein Leben lang nichts anderes getan.
Die ganze Tournee entwickelt sich hernach zum absoluten Triumphzug für Yes. Mit der Liveplatte plus Konzertfilm "Yessongs" (1973) demonstrieren sie ihr Können und erschaffen eine der ewigen Bibeln von Artrock und Prog. Mehr als 40 Jahre später tauchen längst verschollene Mitschnitte dieser legendären Tour auf. Ein gefundenes Fressen für das dokumentationswütige Haus Yes. "Progeny" bietet große Teile der Konzertreise in unfassbar guter Tonqualität.
Der Fan darf sich hierbei aussuchen, ob ihm eher die vorliegende Zusammenstellung passt oder das Mega-Package mit sieben kompletten Gigs auf 14 CDs. Rein musikalisch wird man in beiden Varianten bestens bedient. Die Stücke ihrer Studioalben erheben sich auch im Livekontext über jeden Zweifel. Schon zu Anfang geht es mit Vollgas los. "Siberian Khatru" knallt einem nicht nur raffinierte Rhythmen, ein tolles Riff sowie Howes schickes Solo um die Ohren. Das Lied dient auch dem jungen John Frusciante als Inspiriationsquelle (man höre u.a. den Peppers-Track "Get On Top").
Andersons Falsett ist technisch wie emotional schlicht Weltklasse. Sein Gesang erlaubt sich nicht den kleinsten Fehler. Trotz der extrem hoch angelegten Vocals klingt seine Stimme - ähnlich wie bei Sting - in jeder Sekunde maskulin und fernab jeglicher Androgynität. Auch als Haupttexter der Band überzeugt er schon zu diesem frühen Zeitpunkt der Yes-Laufbahn.
"I've Seen All Good People" etwa spielt lyrisch den Vergleich menschlicher Liebesbeziehungen mit Zügen auf dem Schachbrett aus. Das auf Howes schneidiger Gitarre aufbauende "Yours Is No Disgrace" kommt als sarkastischer Anti-Kriegssong ungewohnt hardrockig um die Ecke. Andersons Zeilen stellen darin dem erlebten Horror von Vietnam-Soldaten simultan ein ausgelassenes Partypeople-Happening in der City of Angels gegenüber.
Rick Wakemans Schützenhilfe ist dieser Tage eine ambivalente Angelegenheit. Einerseits veredelt er vor der Tour Bowies "Hunky Dory" und steuert auf Cat Stevens' "Morning Has Broken" das unvergängliche Pianointro bei. Andererseits fährt Wakeman dieser Tage (gemeinsam mit Howe) Lou Reeds Solodebüt mit pathetischer Unsensibilität so dermaßen vor die Wand, dass man sich noch heute irritiert an den Kopf fasst.
Für Yes erweist sich der Mann mit dem Silbercape weitestgehend als ebenso tragende wie verzierende Säule ihrer Musik. Einzige Ausnahme ist der hier vertretene Ausschnitt aus seinem 1973er Soloalbum "The Six Wives Of Henry VIII". Dieses Lied - inspiriert von einer Blaubart-Bio, die er auf dieser Tour las - bringt die ganze verschrobene Ambivalenz Wakemans auf den Punkt. Die komplette erste Hälfte besteht aus eitel aneinander gereihten Zitaten, denen Albéniz' "Asturias" ebenso wenig entkommen kann wie Bach. Die zweite Hälfte indes glänzt mit einem sehr unterhaltenden spacy Keyboardsolo. Publikum und Medien sahen es damals ähnlich und bescherten Wakemans überambitionierter Platte einen empfindlichen Flop.
Als Herzstück pulsiert "Close To The Edge" im Zentrum des Reigens. Inmitten eines Meeres aus Kakophonie, wiederkehrenden Themen und Soli führt Anderson als Conferencier durch das 20-minütige Mammutlied. Die Raffinesse des Songs ist ehrfurchtgebietend. Würde man jede Nuance von Aufbau und Ästhetik beschreiben, könnte dabei locker ein komplettes Buch herauskommen. Der Text beschäftigt sich derweil mit der Philosophie des Buddhismus im Allgemeinen und Hesses "Siddharta" im Besonderen. Vor allem Jon Anderson bleibt hiervon auch privat recht angetan.
Trotz dieser ganzen Superlative bleibt am Ende die berechtigte Frage, an wen sich diese Veröffentlichung überhaupt wendet. Das Gefühl des Déjà-vu zieht sich wie ein roter Faden durch die Aufnahmen. Die Tracklist stimmt weitgehend mit "Yessongs" überein und variiert auch auf den Gigs des Boxsets nicht wesentlich. Es ist ein wenig, als würde man sich mehrfach das gleiche Auto kaufen, obgleich schon die alte Kiste haargenau so aussah.
Doch dieses kleine Haar vermag die musikalische Suppe in ihrer musikhistorischen Bedeutung nicht zu trüben. Bei näherer Betrachtung fallen einem sogar ein paar Leute ein, die diese Platte auf alle Fälle noch einmal verinnerlichen sollten: Allen voran die aktuelle Yes-Besetzung! Das vorliegende "Progeny" - besonders die Arbeit Steve Howes - verhält sich qualitativ zu den aktuell schlimmen Nulpen-Scheiben "Fly From Here"/"Heaven & Earth" wie Deep Purples "Made In Japan" zu den schauerlichen Ergüssen von Blackmore's Night. Wer dann noch immer große Lust auf Yes in Concert hat, sollte sich ebenso die nicht minder grandiose "Keys To Ascension" besorgen.
1 Kommentar
*seufz*
*geld zähl*
Gruß
Skywise