laut.de-Kritik

Mit Lieblingsnummern die eigene Komfortzone zelebrieren.

Review von

Das CD-Cover von Zuccheros "Discover" legt eine Discovery-Tour in den Bergen nahe. Doch die Bildmontage vom Gipfelplateau des Schweizer Alletsch legt eine falsche Fährte. Es geht ums Entdecken bzw. das Covern von Songs in "Discover". 40 Jahre lang ist der Hutträger aus Norditalien jetzt solo unterwegs, doch über seinen Musikgeschmack weiß man wenig. Entsprechend spannend ist sein Anliegen. Der 66-Jährige selektierte Stücke von den '60ern bis zu den 2010ern, englischsprachige, und Klassiker aus Italien.

Zur Heimatfraktion gehört "Fiore Di Maggio", die Blume, die im Mai blüht. In Italien der Name mancher Blumengeschäfte, Eisdielen, Hotels und sogar eines Dessous-Ladens in Rom. Fabio 'Concato' Piccaluga heißt der Mailänder Lockenkopf (heute mit schütterem Haar), der das Lied schuf - ganz grob gesagt jemand vom Bekanntheitsgrad eines Stephan Remmler bei uns. Zucchero gestaltet die Nummer seicht und klebrig, und es fällt auf, dass dieses Schicksal fast alle Tracks teilen. Der momentan einzige große Exporteur italienischer Songwriter-Kultur bevorzugt also genau solche Stücke, die sowieso zu seinem Stil passen.

"Luce (Tramonti A Nord Est)" war ein San Remo-Festivalhit von Singer/Songwriterin Elisa Toffoli anno 2001. Der Einblick in Italiens 'Electropop mit Stampfbeats'-Szene klingt wie aktuelle osteuropäische ESC-Beiträge - die Duett-Passage mit der Urheberin hört sich indes gut an. "Con Te Partirò" ist der Name der italienischen Ursprungsfassung von Andrea Bocellis "Time To Say Goodbye". Dieses Cover mutet mit 97 Prozent exakter Nachahmung wie der Beweis an, dass Zucchero Klassik drauf hat. Auch wenn diesen Beweis wohl niemand verlangt hat. Wer die Schnulze eh schon aufdringlich, überkandidelt und langweilig fand, wird jetzt nicht glücklicher. Wer drauf abfährt, muss eine weibliche Duettpartnerin missen.

Eine hingegen seltene und mutige Wahl dürfte "Lost Boys Calling" sein. Die Soundtrack-Nummer von Roger Waters und Ennio Morricone (R.I.P.) aus dem Film "The Legend Of 1900" kommt auch jetzt wie ein Stück Score-Musik rüber, lässt als reines Audio-File indes keinen Funken überspringen. Zucchero wählt seinen heiseren Modus, die Geigen ummanteln ihn weich und plüschig. Ein Fall für hartgesottene Filmmusik-Fans, die viel Lounge-Radio hören.

Ältestes Material und Highlight hier ist "High Flyin' Bird". Abweichend von bisherigen Versionen (z.B. von Neil Young) erkennt man die Nummer kaum wieder. Wüstenrock-Momente, Electro-Loops, geheimnisvolle Stimmung, Fiep-Noise, pulsierendes Pochen - die trockene Rhythmus-Studie mit punktuellem Gitarrengeheul weckt Interesse und reißt mit. Harte Folktronic kreuzt der Blues-Liebhaber Fornaciari mit sehr viel Rhythm and Blues in seiner Kehle. Der Autor der Nummer, Billy Edward Wheeler, 88, war ein Hitlieferant, Jefferson Airplane hatten die psychedelische Referenzversion. Obwohl Zuccheros Aufnahme als unvergleichliches Drama in die Pop-Annalen eingehen könnte, erwählte man zur Vorab-Single einen besonders faden Beitrag: "Follow You Follow Me".

Herrn Fornaciaris Akustik-Aufguss des Genesis-Titels lässt gähnen. Stücke mit Mike Rutherfords Understatement-Handschrift und Mikro-Tonsprüngen hart am Rande der Monotonie sind ohnehin schwierig zu covern. Vor allem, wenn man offenkundig keine Ideen für Neuerungen hat.

Letzteres Manko lässt die Platte öfter schwächeln, auch bei "Human". Okay, Rag'n'Bone Man und Zucchero sind ein klares Match! Aber da dem Italiener anscheinend das eigentliche Original des Originals nicht bewusst ist und da er den jüngeren Soul-Kollegen aus Südengland eins zu eins nachspielt, ist die Leistung überschaubar: Mehr Inbrunst und vivace- bis fortissimo-Gesang im Refrain; das wär's, Job done. Bei der dick aufgestrichenen Dramarama-Version plagt es den Toots-Fan in mir.

Lieber Zucchero, wenn wir schon beim "Discovern" (Entdecken) sind, sollten wir's gründlich tun. Der Rag'n'Bone Man hat die Hookline auf einem Zitat des Reggae-Pioniers aufgebaut, Toots erntete für sein "Blame On Me"" mit Rachel Yamagata nie Ruhm.

Auch Mobys "Natural Blues" hat eine tiefer liegende Quelle, Vera Hall, was vermutlich viele nicht wussten. Die gibt Zucchero an und führt somit tief in die Bluesgeschichte. Naja - theoretisch. Denn an der Seite des Rap-affinen Label-Kollegen Mahmood, der für die Stiefel-Nation fast den ESC 2019 gewonnen hätte, orientiert er sich eher an Moby. Das Duett ist kein allzu schöner Paargesang. Lediglich Mahmoods wenige alleine vorgetragene Zeilen und ein Instrumentalteil in der Mitte verleihen Mobys angestaubtem Trip Hop-Classic ein bisschen Frische. 

Von Moby führt die manchmal anstrengende Cover-Aktion zu Fatboy Slims "Praise You" und vor allem zu dessen Sample-Quelle, Chris Isaaks "Wicked Game". Oft von Bands der härteren Fraktion gecovert, profitiert die neue Version hier von virtuoser Slide-Guitar und majestätischer Percussion. Neu an der zig'sten Coverversion ist der bahnbrechende Hall-Effekt, den Zucchero findet. "Wicked Game" gewinnt an Atmosphäre und glückt ihm sagenhaft. 

Aufgrund meiner schon dokumentierten generellen Abneigung gegenüber Bono und gegenüber dem nicht minder großspurigen Pathos von Coldplay sind meine Wertungen zu "Canta La Vita (Let Your Love Be Known)" und "The Scientist" zugegeben parteilich, der Italo-Star kann's aus meiner Sicht nur besser machen. Ohne die pastorale Überernsthaftigkeit in Chris Martins Stimme zeigt sich "The Scientist" hier erheblich entspannter. Bei "Canta La Vita (Let Your Love Be Known)" punktet Zucchero mit einem Choral-Arrangement, in das auch Bono selbst eingebunden ist. Beide Darbietungen klingen kuschelig und gemütlich.

Der entscheidende Kniff, warum "Discover" doch irgendwie Anspruch und Seele hat, ereignet sich in "Ho Visto Nina Volare". Storyteller-Legende Fabrizio de André hatte mit den Lyrics ein abstraktes metaphorisches Mysterium geschaffen, über Wind, Schnee, Meer, Licht, Schatten und Sterne. Einen Teil belässt Zucchero bei der 1999 verstorbenen Papafigur der italienischen Cantautori-Welle, und man hört de André selbst singen. Irritierend, aber bei mehrmaligem Hören gar nicht mal schlecht ist eine Panflöte (oder etwas, das so klingt), die das Lied recht unitalienisch verziert. Sphärisch und filigran vermittelt das Lied Behutsamkeit, Intimität und Sensibilität. Obschon ich Fabrizios Original gleich zwei Mal auf Album und Compilation zuhause habe, war mir die Nummer nie aufgefallen. Ein frappierender Griff in die Tiefe der Archive also.

Zucchero offenbart bei der Auswahl der Lieder nicht die Art von Geschmack, die man erwartet hätte. Da wäre mit mehr Rock (hier nur R.E.M., "Amore Adesso (No Time For Love Like Now)") und mit Blues zu rechnen gewesen. Der Unterhaltungswert der Platte schwankt zwischen den Beiträgen erheblich, obwohl der Sound wahnsinnig homogen ist. Wer die CD kaufen will, sollte drauf achten, dass es etliche Editionen gibt und der Bonus-Track "Everybody's Got To Learn Sometime" beiliegt, der "Discover" fundamental aufwertet.

Trackliste

  1. 1. Amore Adesso (No Time For Love Like Now)
  2. 2. Canta La Vita (Let Your Love Be Known)
  3. 3. The Scientist
  4. 4. Wicked Game
  5. 5. Luce (Tramonti A Nord Est)
  6. 6. Follow You Follow Me
  7. 7. Natural Blues
  8. 8. Fiore Di Maggio
  9. 9. Human
  10. 10. Con Te Partirò
  11. 11. High Flyin' Bird
  12. 12. Ho Visto Nina Volare
  13. 13. Lost Boys Calling

Bonus Track

  1. 1. Everybody's Got To Learn Sometime

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