laut.de-Kritik
Ein Tritt in den fetten Hintern der Jazzpolizei.
Review von Theresa LockerWenn, wenn, wenn. Würde also dieses zehnte Album des Esbjörn Svensson Trios nicht mehr sein als der Nachfolger des neunten, so könnte man schreiben: Genialer Befreiungsschlag, völlig losgelöst von straff durchkomponiertem Jazz, damit werden sie endlich auch in Amerika Rockband-Hallen füllen.
Werden sie aber nicht, denn der Namensgeber und geniale Pianist des Trios starb in diesem Juni beim Tauchen. Übrig bleibt ein Vermächtnis und mehr: Eine während der letzten Tournee eingespielte, großartig freie Platte über Leben und Tod, nach der sich Verschwörungstheoretiker die Finger lecken werden. Mögen sich diese sowie die bierernste Jazzpolizei, die stets am Start ist, um unbedarften Hörern den Spaß zugunsten von Strenge und Musical Correctness zu verderben, an dieser Stelle bitte verziehen.
"Wir wollten schon immer während einer Tour aufnehmen - um die Energie mitzunehmen", erzählt ein sichtlich in Schockstarre verfallener Bassist Dan Bergland bei der Vorstellung des brandneuen und doch allerletzten Albums des Esbjörn Svensson Trios. Nicht nur das ist den Schweden perfekt gelungen. Das radikale "Leucocytes" wurde zwischen zwei Auftritten in wenigen Tagen in Australien zusammengehauen - und komplett improvisiert. Es atmet den Geist von Jimi Hendrix und Mogwai: rauschhaft und wie in Trance spielen e.s.t. intensiv und mächtig wie eine sich auftürmende Lawine und in perfekter, über fünfzehn Jahre bewährter Harmonie.
Salvenartiges Drumming. Beschwörende Bassläufe. Elektro-Hysterie, sphärisches Knarzen, durch Filter gejagte Stimmfetzen und das nie zu aufdringliche Klavier, das trotz Hall eine stets erdende, beruhigende Funktion erfüllt. Organischer, seelenvoller und inspirierter kann Musik kaum sein, allein schon die Soundorgie "Premonition" ist ein Kaufargument für sich. Wild und unberechenbar wird man in die Tiefe gezogen, überhört sechzig Sekunden Stille in bassem Erstaunen, bevor es noch mal richtig los geht: e.s.t. zeigen uns, wie man ein handfestes Meisterwerk aus der dünnen Luft der spontanen Idee zusammenrührt.
"Leucocyte" ist sicher nichts für Zartbesaitete, aber e.s.t. hatten nicht zuletzt wegen ihrer unbändigen Spielfreude genug Selbstbewusstsein für Rockfestivals (“Wenn die Leute nicht zu uns in die Jazzklitschen kommen, kommen wir eben zu ihnen!”) und genügend Ideen, Sampler und Drumgewitter, um den schnarchigsten Intellektuellen aus seinem Cordsessel zu hauen. Ein derart intelligentes und progressives Album, das Electroheads, Popfans und Jazzern gleichermaßen zusagen dürfte, ohne die Spannung auch nur für Sekundenbruchteile zu brechen: Es wird lange dauern, bis wieder jemand dem Jazz - oder dem Pop - so erfrischend gründlich in den Hintern tritt wie Esbjörn Svensson.
13 Kommentare
toller text.
super review. zum niederknien schön. ebenso wie die platte ...
die beste review des jahres definitiv!
eigentlich sogar die beste, die ich auf laut bislang überhaupt gelesen habe. ganz großes sprachgefühl
die platte ist natürlich genauso toll, wie du sagst, matze.
was hältste denn hiervon als konkurrenz cd?
die ist echt nicht gut weggekommen bei obi wan, aber sie wächst mit der zeit enorm
http://forum.laut.de/viewtopic.php?t=59500
Da muß ich erstmal myspace und co bemühen. Ist an mir vorbei gegangen. Man verpasst sowieso viel zu viel!
R.I.P. -
Respekt für diese Zeilen!