laut.de-Kritik

Die schrullige Inkarnation von Zukunftsmusik.

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Liest man über Autechre, fällt fast zwangsläufig der Begriff IDM, die Abkürzung für Intelligent Dance Music. Das Bedürfnis nach Intelligenz in der elektronischen Musik war groß im Großbritannien Anfang und Mitte der Neunziger. Eben erst hatten Bleep und UK Hardcore von Nightmares On Wax oder LFO die Jugend des Landes schließlich in einen so beispiel- wie endlosen Rausch der Ekstase versetzt.

Aus dem selben Stall wie die eben genannten, namentlich Warp Records aus der englischen Industriestadt Sheffield, kamen Sean Booth und Rob Brown, die Techno verschachtelten, ihn der euphorischen Monotonie beraubten. Ob sie ihn tatsächlich intelligenter machten, maßen sie sich nicht an zu beurteilen – beide können, vorsichtig gesagt, mit der Zuschreibung IDM wenig anfangen.

Eher schon holten Booth und Brown elektronische Musik vom Club ins Soundsystem-bestückte Wohnzimmer, entfernten den Rave mit chirurgischer Präzision von der Tanzfläche und pflanzten ihn wundersam verkompliziert in die Gehirne der Introvertierten. LSD mag dabei eine Triebfeder gewesen sein, zu keiner Zeit aber die alleinige Kontrollinstanz Autechres früher musikalischer Großtaten.

Für einen Meilenstein bieten sich aus dieser Zeit insbesondere drei Alben an: Das hier besprochene "Amber" von 1994, das Debütalbum "Incunabula" von 1993 und die wohl prominenteste Wahl: "Tri Repetae" von 1995. Ersteres wird hier besprochen, weil es mit seinen weitestgehend melodischen und klar strukturierten Tracks einen optimalen Einstieg ins Schaffen des britischen Duos bietet, andererseits am stärksten eine Brücke zum Epos SIGN aus dem letzten Jahr schlägt. Und natürlich, weil es sich schlicht um ein geniales Stück Musikgeschichte handelt.

Dafür bürgen schon die beiden ersten Stücke "Foil" und "Montreal", die den Spagat zwischen Eigenwilligkeit und zeitloser Schönheit eindrucksvoll meistern. Eine kleine Packung Kitsch serviert das beinahe orchestrale "Silverside", das gegen Ende fast schon humoristisch in Richtung Klassik abzudriften droht. "Glitch" – der Titel scheint programmatisch gewählt und wirkt wie eine Prophezeiung, die den Sound des Duos, der in den folgenden Dekaden noch deutlich an Komplexität gewinnen sollte, futuristisch kippen lässt.

Grandios auch "Piezo", das nach etwa zwei Minuten ungemütlichem Beat-Gestolper eine Fläche einführt, die von zeitloser Schönheit zeugt. Der Kitsch begleitet die mäandernden Beatschrauben auch hier – eine singuläre Erscheinung in Autechres Diskografie.

In dieser verwendeten Booth und Brown später vornehmlich digitale Produktionsmethoden, die in diesem Umfang im 20. Jahrhundert noch nicht möglich waren. Während Kolleg*innen heute noch mit analogem Gear Musik machen, lehnen die beiden die allgegenwärtige Maschinenromantik konsequent ab. Genug Arbeit sei es damals gewesen, Alben wie "Amber" aus dem Equipment zu quetschen.

Futuristisch klangen sie damals wie heute, ob analog oder digital. Das beweist auch der Zehnminüter "Further", der einen langsamen Electro-Beat aus den Untiefen der Ozeane respektive der Hirnwindungen schillernden Synths gegenüberstellt, sich in seiner Ausrichtung immer wieder minutiös verändert und unter heutigen Gesichtspunkten wohl unter dem Prädikat "immersiv" liefe.

Elektronische Musik war 1994 zweifelsohne noch das futuristische Versprechen, auf dessen Einlösung etwa Anthony Rother-Fans, Detroit-Techno-Snobs und internationale Gigolos noch heute warten. Autechre begegneten dieser etwas albernen konzeptionellen Gravitas mit hemmungsloser Schrulligkeit, deren Endprodukt die Inkarnation von Zukunftsmusik selbst war.

Die klingt auf "Amber" nicht übermäßig komplex, sagt sich immer wieder von verworrenen Rhythmen los und steht zu ihrer Melodik. "Yulquen", das mit seinen perlenden Synths schwerelos im ambienten Klangraum driftet, ist dafür ein fantastisches Beispiel. Ästhetik setzt sich hier abermals gegen Intelligenz durch, Freigeistigkeit gegen präzise Berechnung.

Nicht zuletzt aufgrund der "Artificial Intelligence"-Serie entwickelte sich dennoch das Prädikat IDM für die Musik, die ab den Neunzigern aus dem Warp-Dunstkreis Comedowns und Listening Sessions gleichermaßen vertonte. Sean Booth selbst wusste nach eigenem Bekunden damals schon, dass das vom Label initiierte Bohei nicht ganz ernst gemeint war, wie er 2016 Resident Advisor gegenüber bekundete.

Trotzdem gelten Autechre als Pioniere eines Sounds, den die beiden Eigenbrötler zumindest nicht bewusst mitprägen wollten. Sie machten schlicht, worauf sie Lust hatten. Dass daraus keine leicht verdauliche Kost resultierte, liegt in ihrem Naturell. Um so schöner, wenn sich dabei Anspruch und Anmut die Waage halten – wie auf "Amber".

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Foil
  2. 2. Montreal
  3. 3. Silverside
  4. 4. Slip
  5. 5. Glitch
  6. 6. Piezo
  7. 7. Nine
  8. 8. Further
  9. 9. Yulquen
  10. 10. Nil
  11. 11. Teartear

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