laut.de-Kritik

Zwischen Jazz, Dadaismus und Architektur.

Review von

Was haben Jazz und Progressive Rock gemeinsam? Beide nehmen innerhalb langer Song-Konstrukte gerne viele Kurven. Sie neigen zu Exkursen und pflegen die Kunst, sich nach einigen Extrarunden wieder auf den ursprünglichen Pfad zu begeben.

Başak Yavuz reizt diese Ähnlichkeit. Für ein Album über Metropolen nutzt die studierte Jazzerin Elemente aus dem Dadaismus, z.B. im witzigen "Little Ghost": Electro-Effekte, minimalistische Ton-Geräusch-Sequenzen und sich wiederholende Loops. Sie inszeniert Brüche in Songstrukturen. Yavuz lehnt sich in "Raum 610" so sehr an Impro-Theater und Installationskunst an, dass eine räumliche Vorstellung beim Hören entsteht. Pere Ubu müssten Freude an den absurden Sprüngen, Wendungen und zappa'esken Verquirlungen habe.

"Raum 610" ist ein deutscher Albumtitel, die Künstlerin wohnt in Berlin und spielt mit dort beheimateten Musikern. Die Vocaljazz-Texte singt die in der Türkei aufgewachsene Indie-Komponistin auf Englisch. Und manchmal ergießt sich da schon zu viel Text über die bereits reichhaltigen Klanglandschaften: "Farewell My Love" trägt alles in allem zu dick auf. "Without A Head" setzt - trotz des viel versprechenden Klangkunst-Intros - auf Trompete und typischen Unterhaltungsjazz. Die Ausnahme auf diesem ansonsten originellen Album.

Ihren Zappa kehrt Yavuz im energischen "Stuck" heraus, dem druckvollsten und rockigsten Track mit einem sportlichen Schuss P-Funk. Hier klirrt und wuselt es, werden verhallte Akkorde noch mal aufgezwirbelt und verbogen. Başak Yavuz kommentiert den Großstadtlärm. Sie gewinnt, mitunter schreiend, die Kontrolle über das Chaos.

Im starken "Little Ghost", dem Highlight der Platte, ereignen sich so viele Stops-and-Gos und Tempowechsel, dass geradezu ein Labyrinth aus Abzweigungen entsteht. Genau das beabsichtigt Yavuz auch. Früher einmal studierte sie in Istanbul Architektur, mag Dreidimensionalität. Das Album erinnert ein wenig an das Brettspiel "Scotland Yard" und seine phasenweise unsichtbaren Verbrecher, die man im Spiel mit öffentlichen Verkehrsmitteln verfolgt: "Als würde man sich zufällig an einem beliebigen Ort der Stadt in die U-Bahn begeben, um nach einer subterranen Reise an einem ebenso zufälligen Ort wieder aufzutauchen", beschreibt Yavuz ihren Architektur-Jazz.

Inspiration fand sie in jener Energie, die "Lärm von Baustellen, einander anbrüllende Rad- und Autofahrer, bellende Hunde, schreiende Kinder und zersplitterndes Glas" abstrahlen. Wie ein Magnet saugt sie solchen Input auf, filtert und hüllt ihn in ihre akustischen Forschungen ein. In der Souljazz-Nummer "Professor" spielt die Akademikerin auf ihren universitären Hintergrund an und fragt "Professor, where is your profession, when you're makin' love?". Angenehmer Sound zwar, kehrt hier aber wieder in eine klare Liedstruktur zurück und zeigt außerdem, was durchweg gilt: Die Lyrics haben mit dem musikalischen Thema der Platte nichts zu tun.

Yavuz wagt musikalische Abstraktion, kunstvolle Zerschnipselung und Collagen-Technik im Tausch dafür, ihr Publikum in jedem zweiten Stück mit mehr Konvention und Formtreue einzulullen. Nach dem Motto: Dafür, dass ihr meine schrillen Experimente toleriert, bekommt ihr auch etwas von dem, was die Jazzszene wohl erwarten kann. Oder: Wer sich die schmuddligen, lauten, grellen Seiten der Stadt anschaut, bekommt auch die Schaufenster, Glitzer-Fassaden und Sightseeing-Objekte geboten.

Die eingangs erwähnte Prog-Präferenz scheint dabei ab und an vorsichtig durch. So recht traut sich Başak aber nicht, ihr freien Lauf zu lassen. Dabei erweitern hier gerade die riskanten Tracks den Horizont. Manches hört man hier wirklich zum ersten Mal.

Trackliste

  1. 1. Promised Lands
  2. 2. Little Ghost
  3. 3. Farewell My Love
  4. 4. Professor
  5. 5. Penny And The Hummingbird
  6. 6. Stuck
  7. 7. Without A Head

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