laut.de-Kritik
Vokale Wellen gleiten wie perfekte Surf-Wogen durch das Wohnzimmer.
Review von Giuliano BenassiKaum zu glauben, dass es sich um den gleichen Brian Wilson handelt. Eine halbe Stunde vor der Premiere seines Lebenswerks "Smile" in der Londoner Royal Festival Hall im Februar 2004 sitzt er im Dunklen hinter der Bühne und scheint einem Zusammenbruch nahe. "C'mon, you're just so good!" muntert ihn Paul McCartney auf, dennoch denkt er ernsthaft darüber nach, das Konzert abzusagen. Zu hoch scheint der Berg, den es zu besteigen gilt, zu groß die emotionale Belastung für den vom Leben gezeichneten Musiker.
Als er Monate später in Los Angeles auftritt, zeigt er sich gelöst, gar glücklich. Die Unsicherheiten gehören der Vergangenheit an, die schwach gewordene Stimme hat wieder an Stärke gewonnen, versiert dirigiert er die vielen Musiker auf der Bühne von seinem Keyboard-Pult aus. Er verzichtet sogar auf die Bildschirme, die in London Texte und Abläufe anzeigten.
Als 2004 "Smile" nun endlich vollendet als Studioalbum erschien, 38 Jahre nach Beginn des Projekts, war der Aufruhr groß. Trotz aller Sympathie für Wilson und der Ehrfurcht vor seinem einzigartigen musikalischen Gespür, fehlte den Aufnahmen etwas. Sie wirkten eine Spur zu konstruiert, als dass Begeisterung aufkommen konnte. Eine Unzulänglichkeit, die der Auftritt beseitigt: Zu erleben, wie Wilson und seine Mitstreiter den Stücken Leben einhauchen, ist ein Genuss, der auch nach mehrmaligem Anhören unvermindert anhält.
Die vokalen Harmonien des Acapella-Eröffnungsstücks "Our Prayer/Gee" erzeugen eine Gänsehaut, die 50 Minuten lang bis zum grandiosen Abschluss "Good Vibrations" anhält. Die gute Laune auf der Bühne springt durch den Bildschirm auf den Zuschauer über. In "Heroes And Villains" möchte man wie die Beteiligten zu Pfeifen und Flöten greifen, um an der fröhlichen Rummelplatz-Kulisse teilzunehmen. In "Cabin Essence" gleiten vokalen Wellen wie perfekte Surf-Wogen durch das Wohnzimmer. "Wonderful" und "Surf's Up" verbreiten eine zuversichtliche Melancholie, bei "Mrs. O'Leary's Cow" bräuchte man wie die Beteiligten einen Feuerwehrhelm, um das musikalische Feuer zu zähmen. Wie Geiger und Stimmen emporragende Flammen und Sirenen nachahmen – Wahnsinn.
Der Auftritt vermag es, "Smile" von seinem historischen Ballast zu befreien, und das Werk als das darzustellen, was es wirklich ist: genial komponierte Musik. Die Lorbeeren gehen dabei nicht nur an Wilson und seinen Texter Van Dyke Parks, der in London schluchzend im Publikum sitzt und sich selbst dann nicht fassen kann, als ihn Wilson auf die Bühne ruft. Ohne den Anführer der hochbegabten Begleitband, Darian Sahanaja, wäre der ehemalige Mastermind der Beach Boys weder in der Lage gewesen, sich seiner Vergangenheit zu stellen, noch dazu, sie dem Publikum zu eröffnen. Dass sich der Mann mit den hoch toupierten Haaren im Hintergrund hält ist marketingtechnisch nachvollziehbar, letztendlich aber ungerecht.
Die Aufzeichnung des Auftritts stellt zwar den Höhepunkt der über vier Stunden langen Doppel-DVD dar, im Mittelpunkt steht aber eher der Mensch Brian Wilson. Fast zwei Stunden nimmt die Dokumentation "Beautiful Dreamer" in Anspruch, die die Entstehung von "Smile" ausführlich beleuchtet. Schonungslos erzählt Wilson von seinem gewalttätigen Vater, dem Anspruch, das vollkommene Popwerk zu schaffen, dem Druck des Labels und seiner Band, den kommerziellen Erfolg nicht aus den Augen zu verlieren. Als er merkt, dass ihm das Projekt aus den Händen gleitet, verliert er wörtlich den Verstand. Er gibt auf und fällt in tiefe Depressionen, von denen er sich Jahrzehnte lang nicht erholt.
Die Aufführung von "Smile" ist so etwas wie Musiktherapie – für Wilson selbst. Der schönste Abschnitt der stellenweise langatmigen Dokumentation stellen die letzten 15 Minuten dar, die sich mit der Premiere in London befassen. Bei den emotionsgeladenen Standing Ovations zum Schluss ist förmlich zu spüren, wie allen Beteiligten – Wilson, der Begleitband, den Zuschauern – ein gewaltiger Felsbrocken vom Herz fällt. Die Narben bleiben zwar sichtbar, die Wunden sind aber geheilt.
Wem das noch nicht genug ist, darf sich auf weitere Beiträge freuen. Die DVD quillt mit Liebe zum Detail über, angefangen bei der Gestaltung. Neben einem Booklet mit den wichtigsten Informationen befindet sich in der Verpackung ein Poster Wilsons in jungen Jahren. Eine Fotogalerie hält nicht nur Momente des Konzertes fest, wie sonst üblich, sondern bietet auch Bilder aus der Kindheit und den ersten Jahren mit den Beach Boys. Mitschnitte von einzelnen Stücken in kleinem Rahmen sind ebenso dabei wie eine knapp 20-minütige Dokumentation über die Aufnahmen der Studioversion von "Smile". Schließlich gibt es noch ein Fan-Video zu "Heroes And Villains" sowie aufgezeichnete Reaktionen der Londoner Zuschauer, unter ihnen Roger Daltrey, Kate Moss und Paul McCartneys Begleitband.
Die großen Abwesenden sind die noch lebenden Mitglieder der Beach Boys, mit denen sich Wilson wohl so zerstritten hat, dass sie kein einziges Mal zu Wort kommen. Das ist schade, aber letztendlich unwichtig. "Smile" war ein Geschöpf Wilsons, ihm gebühren Ruhm und Applaus. Die er sich nicht nur mit dieser DVD zweifellos verdient hat.
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