laut.de-Kritik
Simplicity is key.
Review von Jakob HertlSimplicity is key – dieses Prinzip haben in der Rock-Geschichte wenige so gut verstanden und umgesetzt wie Bryan Adams auf "Reckless". Sein viertes Soloalbum machte den Kanadier 1984 vom Rockstar zum Superstar, heimste Chartplatzierungen ohne Ende ein, erreichte in den USA fünffach Platin- und in Kanada sogar Diamant-Status. Alles, was es dafür gebraucht hat: zehn Songs, Gitarre, Schlagzeug, Bass und seine kratzige Stimme. So simpel – und doch: mir würde auf Anhieb kein zweites Album einfallen, auf dem wirklich jeder einzelne Song geil ist.
Den Anfang macht "One Night Love Affair", die Story einer wilden Nacht, deren musikalische Untermalung einen mit poppigen Drums direkt in die 80er schickt. Dort geht es auch mit dem ersten dicken Hit des Albums weiter, "Run To You". Ursprünglich schrieb Adams den Song für Blue Öyster Cult, die wollten ihn allerdings nicht. So schaffte er es am Ende doch auf seine eigene Platte und erreichte als erste Single die Top Ten der BBC-Charts. Kein Wunder bei dem Ohrwurmfaktor und der energetischen Bridge.
Lange vor "Reckless" spielte sich Adams bei seiner Highschool-Band Sweeny Todd noch mit Hardrock die Finger blutig. Auch sein Solo-Debüt "Bryan Adams" und dessen Nachfolger bewegten sich abseits des Mainstreams. Den soften Romantiker Bryan Adams lernte die Welt dann erstmals so richtig mit "Heaven" kennen. Der Song war bereits 1983 Teil des Films "A Night in Heaven", im Folgejahr entschied sich Adams last minute, ihn auch auf "Reckless" zu packen. Inspirieren ließ er sich übrigens von Journeys "Faithfully" – so sehr, dass er sich für "Heaven" zusätzlich deren Drummer Steve Smith ins Boot holte.
Und wenn wir schon bei Gast-Musikern sind, darf natürlich "It's Only Love" nicht unerwähnt bleiben. Das einzige Duett der Platte featuret Tina Turner, für die Adams zuvor bereits als Support auf Tour spielte und später auch produzierte. Dass die rauen Stimmen der beiden perfekt harmonieren, dürfte niemanden wundern. Ebenso wie die Grammy-Nominierung, die der Song beiden bescherte.
Abseits der Star-Features, Auszeichnungen, Nummer eins-Platzierungen und millionenfachen Klicks versteckt sich auf "Reckless" am Ende mit "Long Gone" noch eine echte Granate. Das verspielte Riff zu den simplen Drums macht "Long Gone" in meinen Augen zum zweitbesten Bryan Adams-Song aller Zeiten und definitiv zum unterschätztesten. Die Kombination aus Rhythmusgitarre und Mundharmonika in der energetischen Bridge gehört, glaube ich, zu den genialsten Dingen, die ich je gehört habe und kickt besser rein als Ronaldo und Messi zusammen.
Ordentlich Credit muss man an der Stelle natürlich auch Adams' Leadgitarristen Keith Scott und dem Rest der Band geben. Ebenso wie an den Hauptproduzenten Bob Clearmountain, der durch den einen oder anderen Trick das letzte bisschen Genialität in "Reckless" zauberte. Aufgenommen wurden einige Tracks im kanadischen Low Budget-Studio Little Mountain, das nicht optimal für große Rock-Drums geeignet war. Also entschied Clearmountain kurzerhand, die Drums in der Garage des Gebäudes aufzunehmen. In einem Interview später verriet er: "Das Lustige ist, jemand hat anscheinend genau gemessen, wie wir die Drums aufgebaut haben. Und als Platten von Aerosmiths und anderen im Little Mountain aufgenommen wurden, haben sie alles genau so aufgebaut. Wenn man sich manche dieser Aerosmith-Platten anhört, klingen die Drums also fast identisch mit denen auf 'Cuts Like a Knife' und 'Reckless'."
Ein letzter Name, den man im Rahmen von "Reckless" – und auch Bryan Adams' sonstiger Karriere – ehren muss, ist Jim Vallance. Seit über 40 Jahren schreiben die beiden und tun es bis heute, wie ein altes Ehepaar. Witzigerweise sind die Texte auf "Reckless" kaum sonderlich ausgefuchst. Meist dreht sich alles um die gute alte Liebe. Mal um einen heißen One-Night-Stand, mal um die perfekte Beziehung, mal um eine schmerzhafte Trennung, fast immer kommen sie aber ohne krasse Wortspiele oder anspruchsvolle Poesie aus.
Und dann ist da eben noch dieser eine Song, totgespielt und doch immer wieder auferstanden, weil einfach eine der legendärsten Rock-Hymnen aller Zeiten. Na logo – "Summer Of '69". Allein mit sämtlichen Anekdoten, die sich um dieses zeitlose Meisterwerk ranken, könnte man einen eigenen Meilenstein-Text schreiben. Am berühmtesten ist davon sicher der Fakt, dass der Songtitel eine Referenz an die Sexstellung ist und nicht zwingend mit dem Sommer 1969 zu tun hat (da war Bryan Adams nämlich selbst erst neun Jahre alt).
Ursprünglich hätte "Summer Of '69" sowieso "Best Days Of My Life" heißen sollen. Im Interview bei Songfacts 2009 klärte Adams auf: "Es ist ein sehr einfaches Lied, in dem es darum geht, auf den Sommer zurückzublicken und Liebe zu machen. Für mich war '69 eine Metapher dafür, Liebe zu machen, nicht über das Jahr. Jemand in Spanien hat mich einmal gefragt, warum ich die erste Zeile 'I had my first real sex dream' geschrieben habe, da musste ich lachen." Völlig unabhängig davon ist es aber einfach die ultimative Nostalgie-Hymne, die zuverlässig in bittersüßen Erinnerungen an vergangene Sommer schwelgen lässt. Mann, freue ich mich schon auf den Sommer 2069.
Was mehr als diese Emotionen braucht es, um ein Album wie "Reckless" zum Meilenstein zu krönen? Es ist keine innovative Platte, die das Genre Rock musikalisch neu erfunden hat oder deren Textzeilen heute als Zitate auf Pinterest kursieren. Aber es ist Bryan Adams pur und macht einfach Bock. Auf die Frage, ob er sich mal einen Ausflug gen Jazz, Blues, Singer/Songwriter oder etwas ganz anderes vorstellen könnte, antworte Adams im laut.de-Interview 2017: "Nicht einen Tag lang! Das was man von mir kennt und hört, bin ganz und gar ich. Das ist mein Ding, und ich habe immer alles dafür gegeben, mir treu zu bleiben, damit es authentisch klingt." So wird man zu einem ganz Großen.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
7 Kommentare mit 7 Antworten
Ah geh
Mon goh
Von vorne bis hinten eine grandiose Rockplatte. Da hat noch alles gestimmt.
Da hat Laut.de wohl Angst dass es ihnen geht wie allmusic.com.
Bryan Adams und der Begriff "Meilenstein" schließen sich definitiv aus.
Jeder hat seine Meinung aber wieso schließt sich der Meilenstein für Bryan Adams aus.
In Vice City auf die Harley schwingen und mit Run To You durch die Stadt cruisen - alleine dadurch wurde der Meilenstein hier legitimiert.
https://www.youtube.com/watch?v=h6oS2-V0OUk
Du hast mir die Wörter aus dem Munde genommen.
Völlig verdient, "Run To You" ist einer der besten Songs der 80er.
Ein Album ohne Schwächen mit 10 Höhepunkten.