laut.de-Kritik

Devin Townsend zwischen Johnny Cash und György Ligeti.

Review von

So langsam hat er wirklich alles durch, sollte man denken. Doch auch auf seinem gefühlt hundertsten Release betritt Devin Townsend schon wieder gänzlich neue Gefilde. Mit "Casualties Of Cool" wandelt er auf den Pfaden von Johnny Cash, Billy the Kid und Co., legt ein astreines Country-Western-Album vor und klingt immer noch nach Devin Townsend.

Ganz nebenbei zeigte der Maestro eindrucksvoll, wie man eine Pledge-Kampagne fährt. Nach wenigen Stunden ist das gesteckte Ziel erreicht, am Ende hat er weit über 500 Prozent des geplanten Budgets zur Verfügung. Ta-daa: Das erste Devin Townsend Self-Release steht zu Buche. Mit dem überschüssigen Geld will er übrigens das langerwartete "Z2"-Projekt teilfinanzieren.

Townsend hat also in den letzten zwei Jahren seit "Epicloud" ganze drei Platten fertig gestellt. Denn "Casualties Of Cool" wartet in der Special Edition nicht bloß mit ein paar zusätzlichen Songs, sondern gleich mit einem kompletten Bonusalbum ("Ghost 2") auf.

Planlos, ohne Vision sämtliches angesammelte Material rauszuhauen, das steht HevyDevy eigentlich nicht. Auch wenn bei dieser Vielzahl an gleichzeitig stattfindenden Projekten genau diese Befürchtung naheliegt, so bestätigt sie sich glücklicherweise nicht. Im Gegenteil: "Casualties Of Cool" bildet nicht nur musikalisch eine absolute Einheit, sondern auch storytechnisch.

"Casualties" ist tatsächlich ein waschechtes Konzeptalbum geworden. Einmal mehr behandelt Townsend die menschliche Persönlichkeit, Ängste, Hoffnungen. Das Motiv der Suche ist allgegenwärtig. Ein Wanderer begibt sich durch Raum und Zeit. Der Hörer geht auf akustische Entdeckungsreise.

Dieses Album beim ersten Durchlauf zu fassen zu kriegen, ist wohl nahezu unmöglich. Zunächst läuft es einfach an einem vorbei, bietet nichts zum Festhalten und mutet fast schon wie Fahrstuhlmusik an. Repetitive, stellenweise fast psychedelische Space-Country-Kompositionen breiten sich aus, Klangflächen inmitten der unendlichen Weite einer oder gar mehrerer Galaxien. Je öfter man daran vorbeikommt, desto mehr Ebenen entfalten sich, eine auf den ersten Blick nicht auszumachende Komplexität bricht über den Hörer herein.

Insofern kommt "Casualties", was die Stimmung betrifft, "Ghost" sehr nahe. Musik, die sich ebenso gut für entspannende Hintergrundbeschallung wie für aufmerksames Zuhören eignet.

Oberflächlich ähnelt "Casualties Of Cool" einem Johnny Cash/June Carter-Feature mit dem Soundbild der frühen Cash-Tage und dem Feeling der "American Recordings"-Sessions. Johnny auf LSD erkundet die Weiten des Alls.

Flötenklänge, Slide-Gitarren, ein unglaublich organischer, lebendiger Drumsound, versteckte Streicher und allerlei Zusatzpercussion, angereichert mit sphärischem Hall, verleihen dem Instrumentalfundament eine Tiefe, wie sie kaum ein anderes Country-Album je zeigte. Wobei man mit dem Begriff "Country" hier natürlich vorsichtig umgehen muss. Immerhin handelt es sich um ein Devin Townsend-Produkt. Der sollte eigentlich schon seit langem eine eigene Genrekategorie bekommen.

Auch wenn dieser Longplayer vielleicht das Andersartigste ist, das der sogenannte Mad Professor je geschaffen hat, klingt er darauf doch am wenigsten verrückt. Alles ergibt einen Sinn und – so komplex das Ergebnis auch ausfallen mag – es ist die Essenz einer überlegten Idee, entstanden im Hirn eines Genies. Der Wahnsinn früherer Releases, kanalisiert in fast magische Ruhe, wenn man so will.

Die sanfte, träumerische Stimme Ché Aimee Dorvals schmiegt sich angenehm an das Klanggerüst. So faszinierend und stabil die Instrumentalien allein auch wirken mögen: Ohne sie würde das Konstrukt "Casualties Of Cool" zusammenbrechen. Townsend selbst steuert nur vereinzelt Gesang bei. Während er sich meist zurückhält und in gewohnt meditativem Balladenton singt, lässt er am dramaturgischen Höhepunkt sogar für einen winzigen Augenblick die Furie hervorbrechen.

Hin und wieder nimmt das musikalische Gebilde fast cineastische Züge an. Kopfkino lässt sich bei genauem Hinhören im Grunde gar nicht vermeiden. So sieht man sich in einigen verstörenden Momenten in einer David Lynch-Fantasie gefangen. Nervenzehrende Synthesizer, sich drehende Zahnräder, ein von Shining-Boss Jørgen Munkeby beigesteuertes, nervöses Saxophon und völlig überraschende Brüche in der sonst so homogenen Landschaft ("Deathscope") stellen schwarze Löcher auf der Leinwand eines anfänglich hellen und positiven Gemäldes dar.

Außerdem beeindruckt, dass sogar die stilistisch etwas anders ausgerichtete Bonus-CD irgendwie ins Konzept passt. Zwar mit deutlichem Jazz-Flair angereichert und mit wesentlich reduzierteren Arrangements ausgestattet, funktioniert sie hervorragend als Quasi-Epilog und stellt klanglich das gemeinsame Kind von "Casualties Of Cool" und "Ghost" dar.

An "Casualties Of Cool" werden sich vermutlich die Geister scheiden. Einige werden es sterbenslangweilig finden und auf ein baldiges Ziltoid-Release hoffen, die anderen werden absolut begeistert sein. Auch wenn es viele Parallelen gibt, ist nicht einmal sichergestellt, dass "Ghost"-Liebhaber an "Casualties Of Cool" Gefallen finden werden. Insgesamt ist "Casualties" gleichzeitig einfacher (Wohlfühl-Country), wie auch experimenteller gestrickt ("Pier" erinnert gar an Avantgarde-Meister György Ligeti).

Letztendlich handelt es sich eben um ein typisches Townsend-Solo-Album. Anders, exzentrisch, teilweise kitschig, ohne es damit zu übertreiben, unvorhersehbar und trotzdem irgendwie logisch. Man muss es gehört haben.

Trackliste

  1. 1. Daddy
  2. 2. Mountaintop
  3. 3. Flight
  4. 4. The Code
  5. 5. Moon
  6. 6. Pier
  7. 7. Ether
  8. 8. Hejda
  9. 9. Forgive Me
  10. 10. Broken
  11. 11. Bones
  12. 12. Deathscope
  13. 13. The Field
  14. 14. The Bridge
  15. 15. Pure

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2 Kommentare

  • Vor 10 Jahren

    2/4 Takt bis zum Abwinken...klingt alles recht ähnlich. Dann dazwischen diese überflüssigen Ambient-Filler. So kann man die Spielzeit auch anheben. Das eigentliche Problem ist aber die fehlende Spannung und Passion im Songwriting. Einiges klingt schon ganz gut, der Opener etwa oder der Song "Moon"...aber was den Spannungsfaktor angeht, könnte dies gar mit dem Oberlangweiler "Ki" konkurrieren. So eine Leidenschaft wie einst bei "Terria" bringt der gute Mann wohl einfach nicht mehr, unabhängig seiner Genreausflüge. Und wo der Rezensent den "unglaublich organische[n], lebendige[n] Drumsound" gehört haben will, ist mir ebenfalls ein absolutes Rätsel...

  • Vor 10 Jahren

    Ki ist für mich neben Decon das mit Abstand beste Album der DTP Reihe. Casualties hat viel von den Ghost 2 Ambiente-Parts (was als Bonus enthalten ist beiod er Deluxe Edition) und eben viel von Trainfire von der Ki.
    Ghost ist für mich der belanglose Oberlangweiler bisher. Epicloud ist das erste Album nach Infinity, das ich als nervig und auf Dauer unhörbar bezeichnen wüde. Naja. Verschiedene Meinungen. Ich find Casualties richtig klasse.