laut.de-Kritik
Aufregender wird Hip Hop in 2016 nicht mehr.
Review von Thomas HaasAls Kanye West wenige Tage vor dem "The Life Of Pablo"-Release behauptete, die Platte sei eigentlich ein Gospel-Album, muss ihm augenscheinlich nicht bewusst gewesen sein, was der bereits damals im Entstehungsprozess involvierte Chance The Rapper zur gleichen Zeit in petto hatte. Denn dessen Drittling "Coloring Book", wohlgemerkt wie alle bisherigen Releases nur als Mixtape deklariert, steht der großen Kanye-Platte hinsichtlich musikalischer Innovationskraft im Allgemeinen und Gospelelementen im Speziellen in nichts nach – ganz im Gegenteil.
Denn das "Coloring Book", dem im Übrigen zu keiner Sekunde ein farblicher Anstrich fehlt, definiert sich längst nicht mehr – wie etwa die Vorgängerreleases "10 Day" und "Acid Rap" – als Momentaufnahme des jungen Chancelor Benett, sondern kulminiert bezeiten gar in Genreneuschöpfungen. Dass deren Namensgebung bereits etliche kreative, teils aber auch arg einfältige Kreationen zu Tage fördert, spricht für sich. In jedem Fall sicher ist: was sich da zwischen klassischem und zeitgenössischem Hip Hop, Spoken Word, Soul, Jazz und Funk auftut, existierte in dieser musikalischen Form faktisch noch nicht.
Bereits hinlänglich bekannt und gleichermaßen geschätzt ist sein unverwechselbarer Style zu rappen. Ähnlich wie Childish Gambino oder der frühe Kid Cudi durchbricht Chance spielerisch die eigentlich so widerspenstigen Grenzen zwischen Rap und Pop. Seine Texte klingen zuckersüß, sind immer wieder genuschelt, gesungen oder wahlweise auch nur gesprochen, und das sogar (oder auch gerade), wenn er über Themen wie Erfahrungen mit Acid oder das Schwängern seiner Freundin spricht.
"Coloring Book" destilliert all jene Eigenschaften nun auf Langspielerformat – und bindet dabei noch haufenweise Gäste großartig ein. Illustre Namen wie Kanye West, Future, Lil Wayne oder Justin Bieber stehen dabei Newbies wie Towkio, Lil Yachty oder dem deutschen Produzenten Rascal gegenüber und erzeugen den maximalen Synergie-Effekt. "Music is all we got", heißt es etwa im epochalen Opener "All We Got", der an "Ultralight Beam" erinnert.
"Blessings" erzeugt mittels eines minimal heruntergebrochenen Instrumentals, das stellenweise nur vom glänzend aufgelegten Donnie Trumpet getragen wird, Vibes voller Positivität und Energie, zu denen Chance seine unverschämt charmanten Zeilen droppt: "I know the difference in blessings and worldly possessions / Like my ex-girl getting pregnant and her becoming my everything / I'm at war with my wrongs". Die Drogen sind zwar längst nicht mehr dieselben ("Same Drugs"), dennoch beherrscht es Chance wie kein zweiter, fragile Zeilen (in diesem Fall samt übergeordneter Peter Pan-/Chicago-Referenz) auf unpeinliche Art zu verpacken. "When did you change? / Wendy, you've aged / I thought you'd never grow up / I thought you'd never ... / Window closed, Wendy got old / I was too late, I was too late / A shadow of what I once was".
Und weil das alles so kinderleicht und übrigens auch ganz ohne Label im Rücken von der Hand zu gehen scheint, schießt es sich ganz ungeniert gegen Letztere: "If one more label try to stop me / It's gon' be some dread-head niggas in your lobby", droht er etwa auf "No Problem". Pikant ist in diesem Zusammenhang übrigens auch der Weezy-Part (sein bester seit seinem "At.Long.Last.A$AP"-Verse), der die andauernden Cash Money-Streitigkeiten thematisiert. Ähnlich harsch geht es eigentlich nur auf "Mixtape", dem Schulterschluss mit den Rappern der Stunde Young Thug und Lil Yachty zur Sache. "Oh, they fuck with me cause I'm different / New sound, new appearance". Jop!
Für die durch und durch organische Instrumentierung verantwortlich sind zum Großteil alte Bekannte: The Social Experiment rund um Donnie Trumpet. Das Musikensemble hat über die letzten Jahre hinweg einen jazzigen Sound entwickelt, der die großen Soul-Einflüsse der Hip Hop-Wurzeln zulässt, ohne rückwärtsgewandt zu klingen. Wirklich neu sind allerdings nur die Chöre, die allerorts zu finden sind und "Coloring Book" zweifelsfrei einem Gospel-Album gerecht werden lassen. Auch deshalb dürfte das Mixtape mit zum Aufregendsten gehören, was es in diesem Jahr im Hip Hop zu hören gibt. Der Höchstwertung im Weg steht eigentlich nur dieses erste verdammte Album, das "Coloring Book" wahrscheinlich schon hätte sein können. So bleibt das mulmige Gefühl, dass da vielleicht noch etwas Größeres ansteht.
5 Kommentare mit 2 Antworten
Tolles Mixtape fast ohne Durchhänger. Starke 4/5.
ich weiss nicht.. mir ist es was das musikalische Arrangement anbelangt wohl zu vielschichtig.. das artet in meinen Ohren bisweilen in Lärm aus. War aber auch noch nie ein grosser Freund von Gospel
Rap Album des Jahres, so far. Zu 5/5 hätten "All Night" und "Juke Jam" fehlen dürfen. Außerdem wünsch ich mir bei dem dringend ein Rhymefest Feature.
Sehr gute Songs drauf. Sogar die Balladen gefallen. Seine Singstimme ist sehr angenehm und einzigartig. "Angels" klingt so fresh, Tanzbein wird geschwungen...
Bitte um eure Meinungen zu Chance, konnte mit ihm bisher null anfangen und kenne eigentlich auch nur Fötten, die den hören. @Baudelaire @Affe @Sodhahn @Garret @wersichsonstnochangesprochenfühlt
https://www.youtube.com/watch?v=eedeXTWZUn8
Habe es ein ganzes Mal durch das grausige 'Acid Rap' geschafft, seither skippe ich sogar seine Featureparts.
Musik fuer Leute wie den Vollvogel ueber mir halt.