laut.de-Kritik

Selbstfindung zwischen Liebe und Tragödie.

Review von

Den nun als Prolog zum neuen Album erkennbaren Vorgänger "Redcar Les Adorables Étoiles. Prologue" veröffentlichte Christine And The Queens' noch als Alter Ego Redcar. Für das vierte Album "Paranoïa, Angels, True Love" findet der nichtbinäre Sänger, Songwriter und Tänzer (he/him) zurück in die alte Bühnenpräsenz, entwickelt sich jedoch noch einmal immens weiter.

Beide Werke finden ihre Inspiration in Tony Kushners bitter-ironischem "Angels In America", das sich in den frühen 1980ern mit HIV während der Reagan-Ära auseinandersetzte. Wie auch die Vorlage splittet Chris "Paranoïa, Angels, True Love" in drei Akte auf. Die Texte handeln jedoch vom Tod der Mutter, dem Anfang und dem Ende der Liebe, Sex und seiner Gender-Transformation.

Das von Chris und Mike Dean (Beyoncé, Frank Ocean, Kanye West) beeindruckend produzierte Album findet sein Herz in der Musik der 1990er und 2000er. Der experimentelle Pop spielt mit R'n'B, Trip Hop, Drum'n'Bass, Soul, Trap und dem ganz großen Theater. Mal subtil, mal ohne Umschweife. Mal unterkühlt, mal euphorisch.

"From where I stand, everything is glorious" schließt Chris den Opening-Track "Overture", nur um in den Songs danach zu zeigen, dass so ein Moment eben zerbrechlich bleibt und immer nur einen Augenblick lang währt. Göttinnengleich wacht Madonna über den Longplayer, schaltet sich in drei Stücken ("Angels Crying In My Bed", "I Met An Angel", "Lick The Light Out") gleich selbst ein. Nur sprechend mit starken "Justify My Love"-Vibes erinnert sie an die beste Version ihrer selbst und die frühen 1990er. Das perfekt zu ihr passende Klangbild zeigt, wie ein fantastisches Madonna-Album 2023 klingen könnte. Die großartige 070 Shake ("Modus Vivendi") findet sich immerhin auf zwei Tracks wieder.

Über ein sich langsam im Kreis bewegendes Marvin Gaye-Sample aus "Feel All My Love Inside" singt Chris im Portishead-artigen "Tears Can Be So Soft" wenig verschlüsselt vom Verlust der verstorbenen Mutter, verbindet diesen mit dem Vermissen von Bruder und Freunden: "I miss my mama, miss my mother / Miss my mama at night / Ooh, she gave me life." Gepriesen sei die heilende Wirkung der Tränen: "Tears can be so good for those who dive in them." Noch deutlicher als das Sample greift "Marvin Descending" danach den Geist des Soul-Sängers auf. Verbunden mit Elementen des ersten Massive Attack-Albums "Blue Lines" und Chris' klarer und so besonderen Stimme entsteht daraus etwas ganz Eigenes, Großes.

"Full Of Life" krankt leider bereits am Fundament. Man kann so viele Beats und so viele "Fucking"s über die überzuckerten Streicher von "Pachelbel's Canon" legen, es bleibt immer noch das schauerliche "Pachelbel's Canon". Da hilft selbst der beste Text über geschlechtsspezifische Liebe im Kontrast zum klassischen Hochzeitslied nichts.

Das auf französisch gesungene "Aimer, Puis Vivre" bildet soundtechnisch die einzige deutliche Brücke zu "Redcar Les Adorables Étoiles. Prologue". "Flowery Days" und "Let Me Touch You Once" stehen sich wie die zwei extremsten Versionen von Chris gegenüber. Die Gesangsmelodie, das Arrangement und seine gläserne Stimme lassen ersteres vor Schönheit erstrahlen. "Let Me Touch You Once" antwortet darauf mit einem harten Aufwärtshaken. Ein aggressives Stück, über das Chris gemeinsam mit 070 Shake spuckt, jodelt und krakeelt.

Das siebte und elf Minuten lange Lied "Track 10" (höhöhö, was haben wir gelacht) setzt sich erst langsam in Gang, breitet sich genüsslich über ein "Lucky Man"-Sample aus (Emerson, Lake & Palmer). Hypnotisch steigert es sich zunehmend zu einem Fiebertraum. Tanzen, Sex, New York in den 1990ern aus der Sicht eines 1988 geborenen. Beeindruckend, zwischen singen und sprechen, zwischen Teufel und Engel, stolpernd, wirr wechselnd. Mit ständigen Wendungen fassen diese Minuten ganz "Paranoïa, Angels, True Love" zusammen.

Ein beeindruckendes Album zwischen himmelhochjauchzender Liebe und Tragödie auf dem Weg zur Selbstfindung, das wie so viele seiner Art auch etwas unter seiner Länge leidet. Zeitweise verliert es gänzlich den Fokus, in anderen Momenten setzt doch etwas Eintönigkeit ein. Die Ausfälle bleiben jedoch gering. Am Ende liegt jedoch auch gerade darin die Faszination solcher vielschichtiger Werke. Sie geben einen breiteren Einblick, geben Platz für Nebenschauplätze, geben die Chance Künstler:innen beim Versuchen beizuwohnen. Nicht jeder auf "Paranoïa, Angels, True Love" mag gefallen, nicht jeder gelingt, aber interessant bleibt jeder einzelne.

Trackliste

  1. 1. Overture
  2. 2. Tears Can Be So Soft
  3. 3. Marvin Descending
  4. 4. A Day In The Water
  5. 5. Full Of Life
  6. 6. Angels Crying In My Bed
  7. 7. Track 10
  8. 8. Overture
  9. 9. He's Been Shining For Ever, Your Son
  10. 10. Flowery Days
  11. 11. I Met An Angel
  12. 12. True Love
  13. 13. Let Me Touch You Once
  14. 14. Aimer, Puis Vivre
  15. 15. Shine
  16. 16. We Have To Be Friends
  17. 17. Lick The Light Out
  18. 18. To Be Honest
  19. 19. I Feel Like An Angel
  20. 20. Big Eye

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