laut.de-Biographie
Dizzee Rascal
Bei Dylan Miles bekommt man es mit einem typischen East Ender aus dem Bow-Viertel zu tun. Als im Herbst 2003 sein Album "Boy In Da Corner" erscheint, ist er gerade einmal volljährig. Großgezogen hat ihn seine aus Ghana stammende Mutter alleine. Aus einer sozial benachteiligten Ecke Londons schwingt er sich auf, nicht nur den Hip Hop, sondern die ganze Musikszene des Vereinigten Königreichs nachhaltig zu prägen.
Dabei deutet bis 2000 nicht viel darauf hin, dass aus Dylan zunächst The Next Big Thing, später ein mit Preisen und Ehrungen überhäufter Popstar wird. Seine Schullaufbahn gestaltet sich wenig erfolgreich, ein Lehrer verpasst ihm nicht ohne Grund den Spitznamen Dizzee, der hängen bleibt. Überaus gelangweilt vom Unterricht, fliegt der unwillige Schüler von drei verschiedenen Schulen, bis einer seiner Musiklehrer sein Talent erkennt, ihn an einen Schulrechner setzt und mit Musikprogrammen herumspielen lässt.
Der Förderer beweist ein feines Näschen: Dizzee beginnt, Beats zu bauen und Tracks zusammenzusetzen, die es in sich haben, darunter den Untergrund-Banger "I Luv U". Mit MC Wiley und anderen Gleichgesinnten gründet er die Grime-Crew Roll Deep. Nebenbei organisiert er die in London populären Rave-Partys und betätigt sich, da noch unter dem Alias Dizzee D, als Jungle-DJ.
Musikalisch open-minded, hört er viel Drum'n'Bass, aber auch Techno und Rock. Besonders für Nirvana empfindet er Bewunderung. Als Rapper betrachtet er sich nicht in erster Linie: "Ich bin halt jemand, der rappen kann", so seine lapidare Selbsteinschätzung, und, oh, boy! Das kann er wirklich.
Die ganze Menge Zorn, die sich in einem Jungen aus einem Problemviertel aufgestaut hat, kanalisiert er seinen Rhymes über das Leben im Londoner East End: Realness auf Britisch, die sich auf "Boy In Da Corner" in einem freshen wie interessanten Mix aus Hip Hop und Drum'n'Bass mit elektronischen Spielereien präsentiert.
Eine Art Indie-Hype setzt ein, und Dizzee sahnt gleich einmal den prestigeträchtigen Mercury Prize ab - als jüngster Preisträger und obendrein erster Rapper, dem diese Ehrung je zuteil wurde. Am Morgen nach der Preisverleihung muss seine Mutter die Journalisten vor der Haustür abwimmeln. Der Erfolg seines Alleingangs zieht Folgen für Roll Deep nach sich: Um sich auf seine Solo-Karriere zu konzentrieren, verlässt Dizzee die Crew, was ihm einige Kollegen noch Jahre später verübeln.
Dizzee Rascal avanciert zum gefragten Support-Act.Jay-Z und Sean Paul nehmen ihn ins Vorprogramm, auch mit N.E.R.D. darf er performen. Eine Tour mit Mike Skinner a.k.a. The Streets durch die USA sorgt auch jenseits des Atlantiks für Dizzee-Mania. Dem Mercury-Prize folgt der NME-Award für Innovation. Dizzee kooperiert mit Basement Jaxx für "Lucky Star" (zu finden auf deren Album "Kish Kash").
Der zweite Streich lässt gar nicht lange auf sich warten. Bereits im September 2004 erscheint "Showtime". Der abgerundete Sound klingt organischer und weniger aggressiv, Dizzee hat sich innerhalb eines Jahres hörbar weiterentwickelt.
Die Riege seiner prominenten Fürsprecher reißt in den Jahren darauf nicht ab: Die mit einem Doppelalbum an den Start gehenden Red Hot Chili Peppers buchen den Londoner als Support für ihre drei deutschen Hallenshows, zwei Abende in Dortmund, einer in Berlin. Dizzee eröffnet Konzerte für Justin Timberlake, fertigt einen Remix für den Beck-Song "Hell Yes" an und rockt in Südamerika Crowds in Buenos Aires, Rio de Janeiro und Santiago de Chile. Bei den Brit Awards 2006 ist er neben Craig David, Kano, Lemar und Ms Dynamite in der Kategorie "British Urban Act" nominiert, muss die Trophäe diesmal aber dem R'n'B-Künstler Lemar überlassen.
Das dritte Studio-Album, "Maths + English", erscheint im Juni 2007. Die erste Single-Auskopplung "Sirens" schafft aus dem Stand den Sprung an die Spitze der britischen Charts. Dizzee legt gleichermaßen Wert auf Beats ("Maths") wie Lyrics ("English") und präsentiert das bis dato eingängigste Werk seiner Karriere. Neben Lily Allen und den Arctic Monkeys hätte auch Joss Stone zu hören sein sollen. Mit ihrer Beteiligung geriet "Da Feelin'" dann aber doch zu poppig für Mr. Mills' Geschmack. So eingängig möchte man dann doch auch wieder nicht sein.
Derlei Bedenken wirft 2009 "Tongue N'Cheek" vollkommen über Bord. Neben Cage drehen Dancefloor-Profis Armand van Helden und Calvin Harris die Knöpfchen: Grime goes Pop goes Dancefloor. Dizeee Rascal nimmt sich die selten genutzte Freiheit, auf Erwartungen zu pfeifen und genau das zu tun, worauf er Bock hat: "Some people think I'm bonkers / But I just think I'm free."
Dieser Modus Operandi sorgt für einen rabiaten Aufstieg in der nationalen Reputation, so dass Rascal nicht nur 2010 einen BRIT-Award einstreicht, sondern 2012 auch bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in London performt. Erst 2016 führt das überraschende Interesse des kanadischen Superstars Drake an der Londoner Grime-Szene für einen Kurswechsel des Genre-Innovators. Nachdem "More Life" internationales Interesse am untergrundigen Grime-Sound auslöst, sieht auch Rascal sich zu einer Reaktion gezwungen: Im Folgejahr erscheint mit "Raskit" ein wurzelorientiertes, rohes Grime-Tape, mit dem Dizzee sich zurück an den Puls seiner Subkultur bewegt. Auch der Nachfolger "E3 AF", der 2020 erscheint, wendet sich zurück zu den Ursprüngen, wie bereits der Titel verdeutlicht: Bei "E3" handelt es sich um das postalische Kürzel von Bow, seinem Herkunftsviertel.
Dizzee Rascal bleibt eben eine treue Seele: Das Anfang 2024 nachgelegte Album "Don't Take It Personal" veröffentlicht er wieder auf Dirtee Stank, seinem eigenen Label, das er mit 16 für seinen Durchbruchs-Hit "I Luv U" aus der Taufe gehoben hatte und mit dem er Acts aus benachteiligten Vierteln eine Plattform bieten möchte.
Selbst hat er sich längst zu höchsten Ehren aufgeschwungen: 2013 verleiht ihm die University of East London einen Ehrendoktortitel. Seit 2020 darf er sich obendrein Member of the Order of the British Empire nennen. Ritterwürden als Dank für seine Verdienste um die Musik: nicht schlecht für einen "Boy In Da Corner".
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