laut.de-Kritik
Ein Haufen grundzufriedener Männer.
Review von Yan VogelNach dem durchgängig orchestrierten Bombast-Musical "The Astonishing" überraschte "Distance Over Time" mit seinem reduzierten Ansatz. In der Abgeschiedenheit der Yonderbarn-Studios pflegten Dream Theater einen sehr songorientierten Stil, nicht gänzlich frei von Frickel-Orgien, aber doch in überschaubarem Ausmaß. Die Kritiken fielen durchweg positiv aus, die Fans hierzulande dankten es mit der ersten Nummer Eins in den Albumcharts. Den spontanen und Melodie-basierten Charakter des Vorgängers behält die New Yorker Prog Metal-Institution auf "A View From The Top Of The World" bei, geht gleichzeitig zügelloser und ausufernder zu Werke. Mit einem Augenzwinkern beichtet Bassist John Myung im laut.de-Interview, dass die instrumentale Seite in der Band steckt, die die Hände und Finger stark beansprucht.
Gerade sein Kollege John Petrucci sorgt für zahlreiche fantastische Momente, in denen der passionierte Bart-Träger die Muskeln spielen lässt. Nach dessen Soloalbum sowie der Instrumental-Abfahrt mit dem Projekt Liquid Tension Experiment hätte es der Ausnahmeklampfer auch ruhiger angehen können. Doch weit gefehlt. In den rund siebzig Minuten feuert der Gitarrist ein Skalengewitter ab, das "Terminal Velocity" oder "LTE 3" in Nichts nachsteht.
"A View From The Top Of The World" spielt auf Extrem-Situationen an, in die sich Menschen auf der Suche nach Kick und Erfüllung begeben. Der Albumtitel passt zudem perfekt zum Anspruch, den die Band an sich hat und in der Musik transportiert. Mittlerweile nennt das Quintett ein eigenes Headquarter ihr eigen. Der Komplex dient zum Proben und Produzieren, losgelöst von irgendwelchen gebuchten Studioterminen. Diese Freiheit haben Dream Theater in vollen Zügen genossen.
Die erste Single "The Alien" ist gleichzeitig der Opener. Der Track knüpft musikalisch wie thematisch an den Closer des Vorgängers "Pale Blue Dot" an. "The Alien" wartet mit einem schönen Perspektivwechsel auf. Beleuchten Dream Theater auf "Pale Blue Dot" den blauen Heimatplaneten, spielt "The Alien" mit dem Gedanken, dass die Menschheit auf einen anderen Planeten umgesiedelt ist. Gespickt mit harten Parts, wartet insbesondere Jordan Rudess als Space Commander auf und serviert in den sphärischen Momenten einige delikate wie ohrensprengende Synthie-Sounds. Besondere Erwähnung verdienen Spiel und Sound von Drummer Mike Mangini, der hier wie im nachfolgenden "Awakening The Call" einige satte Tom-Rolls und Filigran-Parts einstreut.
"Invisible Monster" hingegen gestaltet das Kollektiv zu nah an den Erfolgen der Vergangenheit wie "Pull Me Under" und "Caught In A Web". Hier läuft die Reminiszenz an die Vergangenheit ins Leere, da sie zu offenkundig umgesetzt ist. Anders verhält es sich bei der Einleitung zum abschließenden Longtrack. Die abgestoppte Gitarre in Kombination mit dem Snare-Rhythmus ist ein nett verstecktes Easter Egg an die Ouvertüre zu "Scenes From A Memory".
Auch LaBrie liefert eine klasse Gesangsleistung ab, bewegt sich vornehmlich im mittleren Stimmregister und verzichtet auf die hohen Lagen. Der wohltuende Vortrag gipfelt in tollen Melodien. Ein Ansatz, den die Band von beiden Vorgägnern beibehalten hat. LaBrie gelingt es dieses Mal, die instrumentalen Höhenflüge seiner Kollegen zu erden und nicht in den Überbietungswettbewerb einzusteigen. "Sleeping Giant" und "Transcending Time" leben von ihren großartigen Refrains, in denen der oft gescholtene LaBrie in einer gemäßigten Tonlage für die melodischen Akzente sorgt.
Auf "A View From The Top Of The World" treten drei Bandmitglieder als Texter in Erscheinung. In LaBries Fall dreht sich vieles darum, wie wir uns künftig verhalten und zusammenleben, wie in "The Alien" geschehen. John Petrucci beleuchtet gerne fantastische Dinge in seinen Texten wie in "Trancending Time", wo das lyrische Ich in einen Zustand gelangt, in dem ihm jedes Zeitgefühl abgeht. John Myung hingegen pflegt gerne spirituelle Ansätze in seine Lyrics ein wie in "Awaken The Master", das Herz vor Hirn postuliert.
Herzstück der Platte ist selbstredend der 22-minütige Titeltrack, der, anders als etwa die Longtracks der jüngeren Vergangenheit wie "The Count Of Tuscany" oder "Illumination Theory", schlüssig komponiert daherkommt. Ohne unnötige Zierde und schnödes Beiwerk knüpft der Track an Großtaten wie "A Change Of Seasons" an und steht somit Pate für das ungebrochene Selbstbewusstsein der Prog All Stars. Dream Theater Anno 2021 ist ein Haufen grundzufriedener Männer, die wissen, was sie tun.
6 Kommentare mit 16 Antworten
Bester DT Longplayer seit "A Dramatic Turn of Events", der glücklicherweise den fast schon DT-typischen Starkes Album/Schwaches Album-Zyklus durchbricht. Wie in der Rezension hervorgehoben hat LaBrie seine Register-Komfortzone gefunden, und seine Stimme kommt perfekt zur Geltung. Den Titeltrack kann ich zwar auch nach mehrmaligem Durchhören noch nicht in die Kategorie "A Change of Seasons" oder "Octavarium" einordnen. Dafür bin ich von "Awaken the Master" und besonders "Transcending Time" schwer beeindruckt. Hier blitzt Rush ("Spirit of the Radio") durch, und DT beweisen allen Unkenrufen zum Trotz ihr Gespühr für gute Melodien und Hooks.
Ich fand "Distance Over Time" ein kleines Stück besser, aber trotzdem ein super Album.
Ich finde Distance sogar um einiges besser. Werde mit dem neuen Album (noch) nicht warm, daher frage ich mich, bei den vielfach guten Kritiken, ob es dann nur an mir liegt (abseits davon, dass es mir ja nicht zu 100% zusagen muss).
Es überwiegt noch der Eindruck von, dass alles zu vertraut wirkt, zu vorhersehbar, dass DT nichts neues mehr zu erzählen haben. Vor allem die Instrumentalpassagen - es ist irgendwie immer das gleiche - wenn man es in den Kontext der Bandgeschichte bringt. Man weiß sofort, dass es das übliche Wechselspiel zwischen Rudess und Petrucci geben wird, die immer gleichen Keyboardsounds und das Gefrickel bietet mir auch schon länger nichts mehr neues. Nach wie vor technisch auf dem höchsten Niveau, aber das bringt mir nichts, wenn das Herz fehlt.
Auf "Distance Over Time" hatte ich das Gefühl, dass wieder mehr Leidenschaft im Spiel ist. Gerade "Fall Into the Light" was ein super Song. Auf "A View From The Top Of The World" sticht für mich "Awaken The Master" positiv heraus. Finde aber auch "The Alien" wirklich gelungen.
Um den Faden wieder aufzugreifen aus dem Interview: Hier sieht man doch genau, was gesagt wurde: es wird gelobt, daß "die Muskeln spielen" gelassen werden. Nicht, daß hier unterhaltsame, authentische oder gar gute Musik gespielt wird. Und aller-, allerspätestens seit Dragonforce, Animals As Leaders uvm. ist das technisch schwierig zu spielende von DT kaum noch konkurrenzfähig.
Was ist denn bitte "authentische" Musik? Vor allem in Bezug auf Kunst ein fürchterliches und viel zu häufig verwendetes Wort (wenn ich wüsste wie, würde ich jetzt Schwingos Lieblingssmiley hier einfügen)
Und AAL bedienen eine ganz andere Virtuosenschublade als DT und Dragonforce sind eher Powermetal. Wenn, dann wären schon eher die Bands, die Dream Theater direkt beeinflusst haben, die Konkurrenz.
Namedropping: Haken, BTBAM, Arch Echo, Protest The Hero etc.
Authentisch ist so viel wie "Wir haben hier was mitzuteilen!" Energie. Starke Gefühle. Das Gegenteil von K-Pop.
DT sind so inspiriert wie jede schlechte Altherrenprogband aus der Provinz. Hatte so eine mal gemixt. Zieht man mal die instrumentalen Penisprahlereien ab, klingen die genauso wie DT, inklusive Nachdenklichkeit für Dumme, irgendwas mit Aliens, kosmischer Weltbetrachtung und ähnlichem Schnarch, den sie selbst nicht so ganz geglaubt haben.
Und ja, Haken machen das ganze natürlich von Anfang an tausendmal überzeugender.
Dieser Kommentar wurde vor 3 Jahren durch den Autor entfernt.
-> : rolleyes :
Also für mich ist das nur eine bedeutungslose Worthülse, das was für den einen 100 Prozent authentisch sein kann, ist für den nächsten das Gegenteil davon.
Wenn ein Projekt mit dem Ziel an den Start geht, trven K-Pop zu machen, ist es authentischer K-Pop.
Aber wenigstens dahingehend sind wir uns einig, das Haken der obergeilste Shit sind und kompositorisch in einer ganz anderen Liga spielen als DT.
Vielen Dank Gleepi, ich meinte aber eigentlich das, wo das Smiley zeigt, dass es Guacamole gefrühstückt hat
-> : conk :
@Ragism: "... Nicht, daß hier unterhaltsame, authentische oder gar gute Musik gespielt wird." Das lese ich nicht aus dem Interview. Wieso sollten DT diese Tugenden (bewußt) aus den Augen verloren haben? Es ist ja auch immer noch so, dass es im Ohr des Hörers liegt, was "gute Musik" ist, oder was unterhält. Somit ist es absolut beliebig, einem Künstler das Gegenteil zu unterstellen.
Meypi, ich meinte den Faden unter dem Interview, wo eigentlich schon alles gesagt wurde zu dieser Platte und vermutlich jeder, die sie jemals veröffentlicht haben.
Radioheadi, ja, "nicht authentisch" ist immer etwas heikel oder dürftig, der Begriff. Stimme insofern zu. "Gewollt", "bemüht", "eierlos", "ohne Dringlichkeit", "gefühllos" wäre vielleicht besser beschrieben.
"Aber wenigstens dahingehend sind wir uns einig, das Haken der obergeilste Shit sind und kompositorisch in einer ganz anderen Liga spielen als DT."
Anders ja, eine ganz andere Liga sehe ich da nicht. Trotzdem steht Hakens Ouput in den 00ern locker über dem von DT.
In den 10ern natürlich.
21. Jahrhundert?
In den rund siebzig Minuten feuert der Gitarrist ein Skalengewitter ab, das "Terminal Velocity" oder "LTE 3" in Nichts nachsteht.
Mit solchen Sätzen befeuert man aber auch die Kritiker.
Der Rezensent hat recht, und tatsächlich scheint Petrucci seine terminale Geschwindigkeit noch immer nicht erreicht zu haben. Der Punkt ist halt: Deswegen sind DT da, wo sie heute sind. Petrucci und seine Signature Gitarren sind DAS Standbein für Ernie Ball Music Man. Für jeden Stingray Bass verkaufen die 5 JP Modelle. Und deswegen klingen Haken so, wie sie heute klingen (siehe Haken Interview zum ersten "Awake" Hörerlebnis auf YT). Hier bei Laut verkehrt sich interessanterweise der Respekt vor einer unglaublichen musikalischen (ja!) und technischen Leistung in Abwertung und Ablehnung, obwohl sich doch die Frage gar nicht stellt.
Ein sehr gelungenes Album, wie ich finde. Vielleicht nicht ganz so catchy wie der Vorgänger, sind trotzdem tolle Songs ohne zu viel Frickelei, jedenfalls nicht so sehr, dass es unübersichtlich wird. Besteht ja immer ein bisschen die Gefahr, dass es so viel Abwechslung gibt, dass die Abwechslung völlig abhanden kommt und alles nur noch gleich klingt, siehe Obscura.
Ich find man muss James LaBrie auch dafür loben, dass er hauptsächlich in mittlerer Stimmlage singt. Die ganz hohen Töne trifft er ja live leider nicht ganz. In der mittleren Stimmlage singt er aber immer noch sehr gut. Dream Theater werden ja schon seit Jahren wegen seinem Gesang kritisiert. Ich kann mir die Band aber nach 30 Jahren und 14 Alben mit Ihm auch nur schwer ohne LaBrie vorstellen.