laut.de-Kritik

Back To The Roots: gesunde Mischung aus Technik und Natürlichkeit.

Review von

"Distance Over Time" ist bereits das 14. Werk Dream Theaters und in erster Linie das Ergebnis einer langjährigen musikalischen Beziehung, in der alle Parteien es wagen, über den Tellerrand zu blicken. In den letzten acht Jahren passierte nach den verhältnismäßig ruhigen Nullerjahren viel im Camp der Progmetal-Vorreiter. Zunächst wechselte die Personalie an den Drums. Mit Mike Mangini kam einer der versiertesten Schlagzeuger der Metal-Szene, mit Mike Portnoy (The Neal Morse Band, Sons Of Apollo) verließ das Sprachrohr und eine der treibenden Kräfte die Band. Mittlerweile sind die Wogen geglättet, gerade das Verhältnis von Gitarrist John Petrucci zu seinem einstigen Songwriting-Partner hat sich merklich entspannt. Am derzeitigen Bandgefüge ändert das freilich wenig.

Die Veröffentlichungen nach Portnoys Ausstieg fielen durch die Bank wie Standortbestimmung aus. Wenig experimentell und mit einem starken Bezug zur eigenen Vita rauschten "A Dramatic Turn Of Events" und das selbstbetitelte zwölfte Album angenehm durch die Ohren. Von Seiten Dream Theaters schien alles gesagt. Bis zur wilden 13. Platte, dem Doppel-Konzept-Album "The Astonishing". Zwischen Musical-Bombast, Klassik-Kitsch und Balladen-Gesülze arbeitete die Band erstaunlich Melodie- und Song-orientiert und versuchte die Story nachvollziehbar in Szene zu setzen. Diesen Ansatz behalten die New Yorker bei, abzüglich des schnöden Beiwerks. Mit dieser Marschrichtung quartierte sich das Quintett vergangenen Sommer in den Yonderbarn Studios in Monticello, New York, ein, karrte das gesamte Studioequipment an und verbrachte Tag und Nacht gemeinsam.

Ging "The Astonishing" vor allem auf Petruccis Input zurück, arbeiteten hier wieder alle Bandmitglieder gemeinschaftlich an Komposition und Lyrics. Die Band zog sozusagen von Onkel Johns Hütte zu 'Alle unter einem Dach' um. Diese Spontaneität ist "Distance Over Time" anzumerken. Es gibt viele coole Breaks. Die Idee und weniger die Anzahl der einzelnen Parts zählt. Die virtuose Selbstdarstellung hält sich in Grenzen. Auch der Fokus auf Sänger LaBrie belebt die Platte. Die meisten Melodien klingen eher mitreißend im AOR-Sinne als proggig verschachtelt.

Bei der Produktion fällt auf, dass Petrucci nur bei den härteren Tracks ("Pale Blue Dot", "Paralyzed") seine Klampfen doppelt. Ansonsten setzen die Ausnahme-Musiker auf ein organisches und übersichtliches Sound-Setting. Viele Soli laufen ohne die Begleitung einer Rhythmus-Gitarre ab. Gerade Petruccis Flitzefinger gewinnen aufgrund der spärlich-reduzierten Begleitung von Bass und Keys an Prägnanz. Oft schmückt der Gitarrist sein Spiel mit solistischen Einwürfen und kurzen Licks aus wie in "Out Of Reach", kommt jedoch mit einer Gitarren-Spur aus. Auch Tasten-Virtuose Jordan Rudess hat die Zeichen der Zeit erkannt, gibt häufig den kleinen John Lord und orgelt sich auf der Hammond durch die Songs. Das Gefühl steht an erster Stelle – vielleicht auch ein Resultat aus der Arbeit an seinem Soloalbum. So lässt er behände seine Finger über das Continuum gleiten und zieht - wenn es der Song erlaubt - auch mal cyber-spacig vom Leder.

Das Opening Riff zu "Fall Into The Light" schlägt Blitze, ähnlich einer James Hetfield Downstroke-Kaskade. Diese Passage mit bluesig-shuffeligem Unterton mündet in einen ebenso typischen Balladen-Teil, der auch die Bay Area-Kings zitiert und "The Unforgiven", dem Beginn von "One" oder dem Break in "Master Of Puppets" nachempfunden klingt. Mit "Barstool Warrior" stoßen Dream Theater das Tor zu den Klassikern der Spätachtziger und Frühneunziger-Phase auf und gehen in eine ähnliche Richtung wie "The Looking Glass" auf ihrem selbstbetitelten Album von 2013. Aus der Reihe tanzt "Viper King", eine testosterongeladene Hardrock-Nummer, die im Stile des Purple-Klassikers "Highway Star" den ersten Platz in Sachen Coolness einheimst. Schade, dass der mutige Track 'nur' als Bonus zu hören ist.

Zur Übersicht trägt auch die Dreiteilung der Platte bei: die ersten drei Songs tariert die Band in Richtung härterer Platten wie "Scenes From A Memory" und "Train Of Thought" aus. Dann folgt der Klassiker-Referenz-Block mit hochfliegenden Refrains, bevor das Abschluss-Trio Herz (zweiter Teil von "At Wit's End", "Out Of Reach") und Hirn (erster Teil von "At Wit's End", "Pale Blue Dot") bedient und in seinem epischen Abschluss durchaus an die Longtracks von Platten wie "Octavarium" oder "Black Clouds And Silver Linings" anknüpft.

Die Texte stemmt die Gruppe kollektiv. Keine Mischung aus Sandalen-Storybook und Fantasy-Dystopie wie auf dem Vorgänger, sondern handfeste Themen sind angesagt, wie das Aufgreifen der MeToo-Debatte in "At Wit's End", Carl Sagans Warnung an die Menschheit ("Pale Blue Dot") oder dem geistreichen Mangini-Beitrag "Room 137", der das obsessive Streben des Physikers Wolfgang Pauli nach der Urzahl beschreibt. Das einende Band bildet – das Artwork lässt hier tief blicken – das Verhältnis von Mensch und Technik.

Dieses Verhältnis steht auf "Distance Over Time", das bis auf das Debüt die kürzeste Platte der DT-Historie darstellt, tatsächlich seit längerem wieder über Album-Distanz in Einklang. Die Band verzichtet auf ausladendes Gegniedel und setzt auf die Macht der Melodien, was insbesondere dem häufig kritisierten Sänger James LaBrie eine Steilvorlage bietet. Unsere moderne Welt besteht vornehmlich aus Dualismen, die das Leben bestimmen. Dabei ist es gerade die Kreativität, die über Sein und Nicht-Sein entscheidet. Diese sprudelt bei der New Yorker Prog-Legende endlich wieder aus vielen Quellen.

Trackliste

  1. 1. Untethered Angel
  2. 2. Paralyzed
  3. 3. Fall Into The Light
  4. 4. Barstool Warrior
  5. 5. Room 137
  6. 6. S2N
  7. 7. At Wit’s End
  8. 8. Out Of Reach
  9. 9. Pale Blue Dot
  10. 10. Viper King

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Dream Theater

Heavy Metal steht bei vielen Unwissenden nach wie vor in dem Ruf, keine sonderlich anspruchsvolle Musik zu sein. Dass dies jedoch absoluter Blödsinn …

13 Kommentare mit 19 Antworten

  • Vor 5 Jahren

    Ehrlich gesagt habe ich nach "The Astonishing" nichts mehr von DT erwartet. Ich bin Fan der zweiten Stunde (Images & Words) und "The Astonishing" war für mich der absolute kreative Tiefpunkt. Insbesondere Jordan Rudess' kitschiges Spiel verdarb mir das Album, aber auch John Petruccis teilweise seelenlose Hochgeschwindigkeitssoli waren ausschlaggebend, getopt nur noch von der lächerlichen Story. Nun also "Distance over Time", und ich kann es kaum fassen: Rudess dezent im Hintergrund, kaum Gitarrensoli Orgien, der Bass von Myung angenehm und gut hörbar im Mix, Manginis Drumsound endlich zeitgemäß gemastert. Der erste Song "Untethered Angel" ist leider sowohl was Gesang (Autotune? Zuviele Effekte!) als auch die Komposition angeht ein totaler Reinfall und hat ja auch auf YT zum Zeitpunkt der Veröffentlichung den entsprechenden Spott eingefahren. Aber alles was danach kommt ist wirklich gelungen. Ich höre Anleihen zu Rush, Deep Purple und Dream Theater zu ihren besten Zeiten. "Kurz" und knapp, eine Band, die als Band auftritt. Schön, dass die Band nach all den Jahren nochmal aus dem Vollen schöpfen kann.

    • Vor 5 Jahren

      Bemerkenswert, wie (noch) der Großteil der Kommentare darauf ausgerichtet ist, wie scheiße alle die Band finden, anstatt mal wirklich was zum Album zu schreiben. Daher setze ich hier meinen Senf drunter, da ich deinen Ausführungen zustimmen kann. The Astonishing war einfach wenig bis gar nichts, zu lang, zu aufgeblasen dazu die schwache Gut versus Böse Story. Man mag da noch zu Gute halten, dass DT hier mal was anderes probiert haben, war nur halt nicht wirklich gelungen. Beim Hören von Untethered Angel im Vorfeld war ich nicht wirklich positiv auf das Album gestimmt. Einen Song, den man irgendwie von der Band schon X-Mal gehört hat, keineswegs schlecht, aber eben zu sehr routiniert. Zum Glück kann mich der Rest des Albums deutlich mehr überzeugen. Es werden gekonnt die Trademarks ausgespielt und gute Songs geboten, auch wenn sich beim Instrumentalgefrickel bei Pale Blue Dot dann auch wieder die Geister scheiden können, weil man es in ähnlicher Form auch schon tausendfach gehört hat. Aber 4/5 Sternen geht klar.

    • Vor 5 Jahren

      Manuell hinzugefügt: I like! :)

    • Vor 5 Jahren

      The Astonishing hätte wesentlich besser abgeschnitten, wenn sie es gleich (richtig) wie Trans-Siberian Orchestra gemacht und die verschiedenen Rollen ihrer "Rock-Oper" von verschiedenen Sänger(inne)n einsingen hätten lassen...

    • Vor 5 Jahren

      Wie würdest du das Werk auf der offiziellen trveness-Skala einordnen?

    • Vor 5 Jahren

      @SirJethro es ist laut.de, was erwartest du? 75% Trolle, 20% Witzbolde und 5%, die sich mit der Musik beschäftigen :/

  • Vor 5 Jahren

    Ich finde das Album wirklich gut gelungen. Immernoch progressiv, aber mit einer griffigen Kompaktheit, die songdienlich ist, weil die Musik zugänglich bleibt. Bei Prog-Metal besteht ja immer ein bisschen die Gefahr, dass das Gefrickel zum Selbstzweck wird; frei nach dem Motto: Wie viele Noten passen in einen Takt? - DOT ist diesmal kein musikalisches Ejakulat als Endprodukt instrumentaler Masturbation, sondern es ist stimmig, abwechslungsreich und eingängig.
    Hat eigentlich jemand bemerkt, dass das Hauptriff von "Room 137" ziemlich nach "Beautiful People" von Manson klingt?
    "S2N" hat einen echt tollen Chorus und "Out of Reach" ist endlich mal eine balladeske Nummer, die bei DT endlich mal nicht so gequält/bemüht oder gewollt rührselig/kitschig klingt.
    Nach einigen Durchläufen würde ich fast sagen, dass DOT eines der besten DT-Alben ist.

    • Vor 5 Jahren

      Room 134 erinnert mich eher von der Rhythmik teilweise an Higher Ground der Chili Peppers, ansonsten schließe ich mich dem Kommentar mal an. Sehr gute Platte!

    • Vor 5 Jahren

      DOT ist das beste Album seit SFAM... - es fehlt nur leider ein überlanges "f*cking epic" wie Octavarium, etc. dann würde man es in einen Atemzug mit IAW, Awake und SFAM nennen ... so leider nicht.

    • Vor 5 Jahren

      Finde das Album beweist eindeutig, dass es keines braucht. Alles kann, nix muss. Wenn jedes Album eines bieten würde, wäre es eine weitere Sache, bei der man eine gewisse Vorhersagbarkeit der Band nachsagen würde.

  • Vor 5 Jahren

    Wenn Sie sich mal jemand gescheites an den Vocals holen würden zb. Russel Allen, und den Ruddess nicht so viel "klimpern" lassen, könnte man sich das mal wieder anhören.