laut.de-Kritik

Der Saitenakrobat mit dem Aggro-Bart spielt zwischen Manie und Magie.

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Die Hauptneuigkeit lautet nicht: John Petrucci veröffentlicht sein erstes Soloalbum seit 15 Jahren. Nein, "Terminal Velocity" markiert die erste Zusammenarbeit von Petrucci und Mike Portnoy seit dem Ausstieg des Drummers bei Dream Theater vor zehn Jahren. Nach "Black Clouds And Silver Linings" war Schluss, das so erfolgreiche Kapitel mit Alben wie "Images And Words" oder "Scenes From A Memory" beendet. Portnoy tobt sich musikalisch in diversen Richtungen aus (Neal Morse, Sons Of Apollo, Flying Colors), während Petrucci als Regisseur das Traumtheater mal waghalsiger wie auf der Oper "The Astonishing" und mal traditioneller wie auf "Distance Over Time" konzipiert.

Über Familienfeste und Silvesterfeiern finden die Jugendfreunde schließlich wieder zusammen. Spannend bleibt künftig, ob die kurzzeitige Liaison die Blaupause für eine Reunion bildet. James LaBries Begeisterung ob einer Rückkehr des ehemaligen Bandmotors dürfte sich in Grenzen halten. Auch Mike Mangini sitzt als derzeitiger Taktgeber fest im Sattel.

Die Dominanz der Gitarre verdeutlicht einmal mehr, wer in dieser Band den Ton angibt. Spielt Petrucci brachial, klingen Dream Theater nach Metal; spielt er raumgreifend-elegisch, weht der Geist von Rushs Alex Lifeson durch den Äther; bedient er hingegen eher die akustisch-emotionale Schiene, wähnt man sich in den frühen Siebzigern. Nicht anders verhält es sich bei "Terminal Velocity".

Im Vergleich zur Soloscheibe "Wired For Madness" von Tastenmagier Jordan Rudess fällt auf, das Petrucci bedeutend konservativer zu Werke geht. Rudess streut wesentlich mehr Ideen ein und sorgt im Songwriting für die Schlenker. Sein Saitenkollege verkörpert den Signature-Sound der New Yorker Prog-Institution.

Mangini spielt bei Dream Theater technisch äußerst versiert und genau wie eine Atomuhr. Portnoy steht ihm in Sachen Fills in nichts nach, verfügt jedoch über die notwendige Portion Groove, um den durchdachten Parts Leben einzuhauchen. Hinzu gesellt sich das erdige und pointierte Spiel von Bassmann Dave LaRue, der weniger halsbrecherisch denn handwerkend agiert.

Der sieben-saiter Song "Temple Of Circadia", dessen Riffing an "The Dark Eternal Night" erinnert, kracht aus der Anlage. Ähnlich der Akzentverschiebungen bei "The Mirror" schickt Petrucci das Thema einmal quer durch die Metrik. Die Blues-Verbeugung "Out Of The Blue" bildet einen gelungenen Ruhepol und beweist, dass in den gewaltigen Oberarmen des 53-Jährigen reichlich Gefühl steckt.

Auf neoklassische Flitzefingerorgien à la Malmsteen und das kleine Einmaleins des Shredding muss kein Fan verzichten. Auf John Peter Uzzi ist Verlass. Mit "Snake In My Boot" findet sich gar ein Classic Rock-Song auf der Platte, der wie "Viper King" vom letzten Dream Theater-Album tief lila im Schwarzmoor steckt.

Es dominiert jedoch klassischer Petrucci-Stoff, wie er auf einem der vergangenen Alben seiner Stammformation hätte stehen können. Der Saitenakrobat mit dem Aggro-Bart spielt akurat und abgefahren. "Terminal Vemocity" bildet insbesondere die stilistische Vielseitigkeit ab. Glücklicherweise mündet kein Song in der Sackgasse Geschwindigkeit, die viele Sechssaiter zwecks Angeberei wählen.

Petrucci steht auf einer Stufe mit Guitar-Heroes wie Steve Vai, Marty Friedman oder Satriani. Tapping, Sweeping, Shredding, playing it again. Ob das nun als Tonmanie im Sinne leerer Klimperei oder Tonmagie im Sinne wirklicher Kunst zu bezeichnen ist, möge jeder Hörer entscheiden.

Trackliste

  1. 1. Terminal Velocity
  2. 2. The Oddfather
  3. 3. Happy Song
  4. 4. Gemini
  5. 5. Out Of The Blue
  6. 6. Glassy-Eyed Zombies
  7. 7. The Way Things Fall
  8. 8. Snake In My Boot
  9. 9. Temple Of Circadia

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3 Kommentare mit einer Antwort

  • Vor 3 Jahren

    "Portnoy steht ihm in Sachen Fills in nichts nach, verfügt jedoch über die notwendige Portion Groove, um den durchdachten Parts Leben einzuhauchen."
    Ja, ja und nochmals ja. :-)

  • Vor 3 Jahren

    N DT-35/40-Anniversary - Gig anno mit zwei Drummern hätte schon was. Full Crimso going (plus Sherenian) wäre auch ne witzige Sache. Für einen Moment. Aber Portnoy gerade als Morse-Backbone jetzt wieder der Dream-Theater-Langweiligkeit zu opfern, wäre grausame Verschwendung. Von der Band kommt seit fünfzehn Jahren nur derselbe Scheiss. Also spart euch mal die Reunion und lasst endlich mal Mangini von der Leine.

    Zur Platte. Besser als alles was der Mann seit Octavarium gemacht hat, liegt vielleicht am fehlenden Weichkäse, vor allem aber am fehlenden Erwartungen erfüllen...

    • Vor 3 Jahren

      Puh, bezüglich Geschmack lässt sich natürlich streiten, aber systematic Chaos fand ich noch großartig. Black clouds hatte auch einige echt starke Momente (nightmare, count, shattered...). Bei allem danach stimme ich zu, vor allem was den ekelhaften weichkäse angeht.
      On topic: album gefällt, ist aber keine Offenbarung.

  • Vor 3 Jahren

    Ein gutes Album! Besonders in punkto Songwriting fällt mir positiv die Abwesenheit von JR auf, was den Cheesinessfaktor ordentlich einpegelt. Ich freue mich, dass Portnoy mit dabei ist und sein doch im Vergleich zu MM lebendigeres Spiel einbringt. Dave LaRues Spiel und insbesondere EBMM Bongosound passt erwartungsgemäß wie die Faust aufs Auge und sitzt passgenau wo er im Mix hingehört.
    Ich bin kein Fan von viel Gefuddel und würde mich eher im Satrianilager verorten. Aber gerade mit "Happy Song" zeigt Petrucci, dass er auch in dieser Richtung kann - bloß eben eine Schippe komplexer was das Arrangement angeht.
    Insgesamt finde ich den Bogen von Gefuddel zu Vielfalt gelungen und ich freue mich über Rush-Elemente "The Way Things Fall" wie über klassisches Dream Theater Material "The Oddfather".
    Wenn jetzt noch der mittlerweile leider nicht mehr richtig aktive Kevin Moore mit von der Partie gewesen wäre ...