laut.de-Kritik
Der Unterwasser-Afrofuturismus erstürmt das All.
Review von Maximilian FritzDrexciya besetzen in der Kulturgeschichte elektronischer Musik bis heute einen seltsam sublimen Knotenpunkt. Leicht schnöselige Kenner der Those-Who-Know-Fraktion verehren die beiden Detroiter (Unter)Wassergötter bisweilen kultisch, trotzdem taucht James Stinsons und Gerald Donalds Projekt nicht zwangsläufig auf, wenn es um die Genese maschineller Musik zwischen Motor City und Mauerfall-Berlin geht.
Das liegt zum einen sicher daran, dass niemand sonst so konsequent die menschliche Komponente hinter der künstlerischen Persona verschleierte, wie Drexciya es zu tun pflegten. Rigoros und praktisch ohne Ausnahme verweilten sie in dem mythologischen Kosmos, den sie als Grundlage für ihre Tracks schufen, beziehungsweise für ihre "sonische und konzeptuelle Forschung", wie es Donald im GROOVE-Interview von 2012 ausdrückt.
Zum anderen fehlen in der drexciyanischen Diskographie in gewisser Weise die offensichtlichen Hits, die überragenden Monolithen des künstlerischen Schaffens. Klar gibt es Tracks wie das legendäre "Andreaen Sand Dunes" oder das auf dem hier besprochenen Album vertretene "Gravity Waves". Epoche machten Drexciya als Duo aber insbesondere mit ihrem ganzheitlichen Konzept. Höchst penibel planten sie ihre Veröffentlichungen vom Booklet bis zu den tatsächlichen Tracks. Alles richteten sie dabei am Entstehungsmythos der drexciyanischen Rasse aus, der sich in etwa so verknappen lässt: Schwangere afrikanische Frauen werden im Zuge des Dreieckshandels von einem Sklavenschiff geworfen, ihre Kinder überleben unter Wasser und gründen ein utopisches, technologisches Reich in den Tiefen des Atlantiks.
Das klingt abgedreht, ist für Drexciyas einzigartige Vision des Afrofuturismus, die ihren Ermächtigungscharakter aus der Symbiose von Technik und Science-Fiction speist, aber essenziell. Spielten sich frühere Veröffentlichungen zumeist in diesem futuristischen Atlantis ab, machten sich die Drexciyaner auf "Grava 4" ins All auf und vervollkommneten ihre Entwicklung in letzter Konsequenz. Die letzte große Reise beginnt mit dem erhabenen Achtminüter "Cascading Celestial Giants", einem mächtigen, schwerfälligen Stück, das göttliche Chöre, vertraut glitzernde Synthesizer-Töne und bedrohliches Bassgrollen zu einer maritim-interstellaren Klang-Kaskade verwebt.
Das bereits erwähnte, unerbittlich peitschende "Gravity Waves" bewegt sich anschließend an der Schnittstelle zwischen Techno und Electro, dem Subgenre, das Drexciya wohl prägten wie kein zweiter Act. Beinahe durchgehend stolpert die Bassdrum hibbelig durch den Track, wie silber blitzende Rassiermesser reiten die Synths die Gravitationswellen auf verschiedenen Niveaus. Ein schlicht unfassbar starkes Stück Musik, das jeden Rave noch heute mit Leichtigkeit zum Überschäumen bringt.
Nach dieser kräftezehrenden Tour de Force schnell weiter zu "Powers Of The Deep", das mit zurückgenommenem Drumming und latent unheilvoller Melodie immer wieder andeutet, welche Kräfte sich in den aquatischen Tiefen tummeln. Ein Beleg dafür, dass Drexciya es wie kein anderer Act verstanden, Motive, Gefühle und Bilder in meist instrumentale Stücke zu übersetzen. Auch 18 Jahre nach ihrem letzten Album klingen sämtliche Tracks derart progressiv, zeitlos und fantastisch im Sounddesign, dass sie ihrem futuristischen Bestreben mehr als gerecht werden.
Auch "Drexcyen Star Chamber" – endlich sind wir im All angekommen! – bildet selbstredend keine Ausnahme. Ungemein lebhaftes Drumming, das die schönste aller möglichen Electro-Snares und intelligente Hi-Hats vermengt, trifft auf sanfte, beruhigende Flächen, die das Treiben durch die Sternenkammer illustrieren. Ein weiteres von Drexciyas Erfolgsprinzipien offenbart sich spätestens hier: Nichts klingt überladen, Reduktion und saubere Ausführung sind der Königsweg.
So gehört auch in "Drexcyen R.E.S.T. Principle", wenngleich mit gänzlich anderem klanglichen Resultat: Unaufhaltsame Bass-Wirbel legen das Fundament für einen bedrohlichen Stomper, der mit geradem Beat-Schema die Flucht nach vorne sucht und die seltsam organischen Klangfarben des Meeres endgültig gegen den cleanen High-Tech-Funk des Kosmos eintauscht. "Hightech Nomads" illustriert im Anschluss ebenfalls die klangästhetische Verschiebung von der Aquabahn zum Spaceway, vielleicht noch eine Spur intensiver und hyperaktiver als sein Vorgänger. Auch hier klingt aber jede Tonspur faszinierend, minutiös arrangiert.
Die kräftezehrende Reise nähert sich inzwischen dem Ende. "700 Million Lightyears From Earth" hat das Unterwasservolk zurückgelegt, um am "Astronomical Guidepost", dem letzten Track des Albums, anzugelangen. Ein weiter Weg, den Gerald Donald und James Stinson in etwa 50 Minuten bravourös beschreiten. Während die vorletzte Nummer elegischen Electro auffährt, mausert sich der Closer mit seinem Workout und ins Unendliche verzerrten Synths zum vielleicht sogar stärksten Track des Albums. Hier tauchen die einzigen gesprochenen Wörter auf: "Use the star chart to fix a celestial navigation point. From there you should be able to plot your path back to Earth using rudimentary astronomical guideposts", gibt eine seltsam verfremdete Stimme den Drexciyanern abschließend mit auf dem Weg. Eine Rückkehr aus dem Sternenreich in die irdischen Unterwasser-Domizile erscheint also denkbar.
Künstlerisch war diese für Donald und Stinson leider nicht mehr umzusetzen. Stinson, der als Ausgleich zu seiner Arbeit mit Drexciya als Lastwagenfahrer arbeitete, erlag noch im Erscheinungsjahr von "Grava 4" einem Herzleiden. Bis heute deuten Fans und Experten gleichermaßen die Werke des ikonischen Detroiter Duos, Pullis werden bedruckt, deren Erlöse zum Teil an Stinsons Witwe gehen, Comics erscheinen, die die Bilderwelt Drexciyas zu neuem Leben erwecken. Das wichtigste Vermächtnis bleibt aber natürlich das musikalische Schaffen, das das Gesamtkunstwerk Drexciya der oberirdischen menschlichen Rasse hinterließ.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
1 Kommentar mit einer Antwort
Danke für diese Rezension! Deeper wird es seltener im Electro-Kosmos, jedes Release von Drexciya oder den Nebenprojekten könnte hier stehen. Einfach ein zeitloser, faszinierender und eigenständiger Sound mit diesem gewissen "sense of wonder".
Gerne, da bin ich uneingeschränkt bei dir.