laut.de-Kritik

Ein Mantel wie Sandpapier für zeitlose Zeilen.

Review von

1985 waren die Neubauten mit "Halber Mensch" das Verstörendste, was Deutschland zu bieten hatte. Die meisten Künstler begnügen sich stets damit, den Finger in offene Wunden von Gesellschaft und System zu legen. Nicht so die Unruh (Percussion), der Chung (Bass), die Einheit (Percussion), die Hacke (Gitarre) und das Bargeld (Vocals, Gitarre, Keyboard). Sie verkörpern alle denkbaren Blessuren auf der Bühne. Nur um alles im ekstatischen Rausch zwischen Baustellenkrach und hypnotischen Riffs dem Erdboden gleich zu machen.

"Ich bin die umstürzlerische Liebe. Jeder Tag kostet mich Wunden. Schon jetzt zerschunden und völlig blutverschmiert."

Tatsächlich gelingt ihnen mit diesem Album musikalisch die Quadratur des Kreises. Die ersten beiden Werke waren derbe Orgien purer Dekonstruktion. "Hören Mit Schmerzen" als Motto; Ohrenqual als Methode. Seit "Tabula Rasa" (1992) schwirren sie schulbuchtauglich in ruhigeren Gefilden mit eher konventionellen Songstrukturen und filigran gefeilten Texten. Der "Halbe Mensch" hingegen ist ihr ewiger Zenith.

Keine halbe Portion, sondern brillante Synthese aus Rhythmus, Melodie und fieser Apokalypse. Dazu: Mit "Yü Gung (Fütter Mein Ego)" enthält die Platte den wohl unkonventionellsten Dancefloor-Klopper aller Zeiten. Rhythmisch brillanter Veitstanz für die Underground-Diskos von Berlin bis New York und Tokio. "Niemals schlafen. Alles Lügen. Staubiges Vergnügen", brüllt der ebenso manische wie abgerockte Derwisch Blixa der irritierten Menge entgegen.

In Zeiten, in denen man Depeche Modes "People Are People" für eine gewagt maschinelle Klangkonstruktion hält, erzeugt der Frontmann mit biochemisch bedingtem Vampir-Teint und blutunterlaufenen Augen regelrechte Furcht bei Publikum und Medien. Eine Eigenschaft, die sich Peter Zadek nach Genuss dieser Scheibe für seine "Andy"-Inszenierung nur zu gern zunutze macht. Sätze wie "Ich mag nur die Musik längst toter Komponisten. Alles Zeitgenössische taugt nichts" tun ihr übriges.

Bei aller zur Schau gestellten Provokation sollte man gleichwohl nicht übersehen, wie perfekt der klangliche Kosmos sich um die Bargeldsche Poesie schmirgelt. Ein Mantel wie Sandpapier für zeitlose Zeilen. Als Anspieltipp taugt hier besonders "Der Tod Ist Ein Dandy". Wie ein heraufziehendes Unwetter braut sich die Dynamik des Liedes zum Sturm, bis man entweder schreiend davon läuft oder zu Recht wieder und wieder die Repeattaste drückt.

Doch selbst dieser Musik gewordene Tsunami wird emotional getoppt durch die Trilogie "Seele Brennt", "Sehnsucht (Zitternd)" und "Letztes Biest (Am Himmel)". Während sich Blixas Seele in den eigenen Flammen verzehrt, erzeugt die Mannschaft eine Art Rockinferno im perkussiven Glockenturm. Gekrönt durch den seit Dekaden charakteristischen Schrei, bei dem Bargeld alles Menschliche hinter sich lässt. Ein Laut wie von einem qualvoll verendenden Waldtier in Agonie.

Zum Kontrast hernach die zwischen Drogenentzug und Spiritualität pendelnde "Sehnsucht ist die einzige Energie" zum ebenso trocken wie dominant angeschlagenen Hacke-Riff. Der größte Neubauten-Höhepunkt aller Zeiten bleibt dennoch das "Letzte Biest". "Geh im Osten auf. Der Osten ist rot. Und im Westen unter. Die letzte Bestie am Firmament. Ich bin das letzte schöne Sternentier. Das letzte fiebrige Gestirn. Halt mich fest in der Morgendämmerung."

Sicherlich ist die Lyrik des Ur-Berliner Freigeistes nicht jedermanns Sache. In seiner zeitlos sprachlichen Perfektion samt Doppelbödigkeit ist Blixa dennoch eine einmalige Erscheinung unter Deutschlands Songwritern. Der fast dalihafte Surrealismus degradiert angeblich gekonnte Texte moderner Jammerbarden wie Naidoo und Co. lässig zu pennälerhaftem Schmand aus der Schlagerabteilung für christliche Wiedererweckung.

Jede Zeile auf "Halber Mensch" klingt dagegen auch heute noch genauso aktuell wie ehedem. Wer das nicht glauben mag, schaue sich nur einmal um und wende das Titelstück auf die heutige Gegenwart an. Es hat sich nichts geändert. In der CD-Variante sei an dieser Stelle besonders auf das herausragende Lee Hazlewood-Cover "Sand" hingewiesen. Hierin hört man deutlich den Einfluss der 'Bösen Saat' Nick Caves, bei dem der Neubauten-Chef 20 Jahre lang in Freundschaft verbundener Leadgitarrist und Co-Composer war. Wer hingegen von diesem geballten EN-Wahnsinn nicht genug bekommt, dem sei wärmstens das sehr politische und musikalisch ähnlich gelungene Folgewerk "Fünf Auf Der Nach Oben Offenen Richterskala" empfohlen.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Halber Mensch
  2. 2. YÜ-gung (Fütter Mein Ego)
  3. 3. Trinklied
  4. 4. Z.n.s.
  5. 5. Seele Brennt
  6. 6. Sehnsucht (Zitternd)
  7. 7. Der Tod Ist Ein Dandy
  8. 8. Letztes Biest (Am Himmel)
  9. 9. Schaben
  10. 10. Sand
  11. 11. YÜ-gung [Adran Sherwood Remix]

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