laut.de-Kritik

Wenn das provokante Make-up verrinnt.

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Kein Song der bisherigen Diskografie der Fat White Family brachte die musikalischen und außermusikalischen Dilemmata der Band so gut auf den Punkt wie "Today You Become Man", der sechste Song auf "Forgiveness Is Yours". Im Intro imitiert die gesamte Familie eine Schafherde und klingt dabei einmal mehr wie eine überambitionierte Laientheatergruppe. Anschließend setzt Samuel Toms an der Percussion ein, ehe Frontmann Lias Saoudi wütend zu brabbeln beginnt und weiterbrabbelt und weiterbrabbelt und seine Worte immer mehr beschleunigt. "You guys had it done in England / You had it done the humane way", keucht Saoudi zu Beginn. Später entfährt ihm die Frage "Maybe this is just Muslim Christmas or something?", mit der sich das lyrische Ich zu beruhigen versucht. Beim lyrischen Ich handelt es sich um Lias' Bruder Tam, der im Alter von fünf Jahren unter dem Vorwand eines Bücherkaufs in Algerien beschnitten wurde.

Ehe man sich die Frage stellt, ob "Today You Become Man" auf sehr eigenwillige Art Religionskritik üben will, mähen die versammelten Familienmitglieder auch schon wieder, und gefallen sich in ihren Rollen als Berufsprovokateure. Sicher wird irgendein empfindsamer Guardian-Redakteur auf die kalkulierte Zündelei anspringen: "Schafe und Muslime im selben Song? Das ist ein Skandal, dem wir um der Menschlichkeit willen auf den Grund gehen müssen!" Und die Fat White Family wird im Gespräch bleiben ...

Wer King Crimsons "Thela Hun Ginjeet" und einige Songs der frühen Arab Strap nicht kennt, wird die Kombination aus hektisch hervorgepressten Spoken Words und gekonntem Drumming in "Today You Become Man" als äußerst innovativ empfinden. Wer Tracks wie "Thela Hun Ginjeet" oder "The First Big Weekend" hingegen kennt, fragt sich vor allem, warum die Fat White Family ihren Song durch das dümmliche Intro und Outro ins Lächerliche zieht und warum der Song trotz seiner innovativen Lyrics und seines Migräneförderungspotentials im Gegensatz zu den beiden genannten Klassikern aus den Federn Robert Fripps bzw. des Duos Aidan Moffat/Malcolm Middleton bereits beim zweiten Hören langweilt.

Das Rad der Musikgeschichte erfindet die korpulente minimalpigmentierte Familie trotz all des provokanten Make-Ups, mit dem sie sich schminkt, auch auf den anderen Songs ihres vierten Albums nicht. Während sich die Familie in der verspulten Flöten-Ouvertüre "The Archivist" und dem ziellos vor sich hin mäandernden Folgesong "John Lennon" bei den Skurrilitäten des Psychedelic Rock der späten 1960er-Jahre bedient, lädt sie auf "Feed The Horse" und "What's That You Say" mit Düstersynthies, Drumcomputer und an die frühen Pet Shop Boys erinnerndem Säuselgesang in die 80er-Disco. Die Ausflüge in die 80er gelingen den Herren wesentlich besser. Insbesondere der Midtempo-Pop von "What's That You Say" gefällt mit weiblichen Guest Vocals und dem Ohrwurmpotential des Refrains.

Stärken und Schwächen der Fat White Family verdeutlichen auch die beiden eigenwilligen Disconummern "Bullet Of Dignity" und "Polygamy Is Only For The Chief". Beide Songs überzeugen mit ihrem Groove, zweitgenannter Track zudem durch ein in jeder Hinsicht geiles Gitarrenriff. Während Saoudi einen Teil seiner Zeilen in "Bullet Of Dignity" nahe an der Grenze des Erträglichen wiehert, überschreitet er in der zweiten Songhälfte von "Polygamy Is Only For The Chief" jene Grenze. Dann nämlich zerstört der notorisch exaltierte Sänger den bis dato im positiven Sinne testosterongeladenen Song, der an Prince in dessen Prime Time erinnert, durch Stöhnen, das in seiner (vermutlich nicht einkalkulierten) Künstlichkeit zum Lachen verleitet. Mein lieber Lias, so sehr du dich auch anstrengen magst, aber Mick Jagger, Donna Summer und – bien sûre – Jane Birkin stöhnten in den letzten Jahrzehnten nicht nur songdienlicher, sondern auch authentischer!

Sowohl "Bullet Of Dignity" als auch "Polygamy Is Only For The Chief" will die Band im weitesten Sinne sozialkritisch verstanden wissen. In ersterem Song mit Zeilen wie "Tell me where are we laying your cemetery! / Don't try to silence and bury me! / Don't push me 'cause I won't go quietly! / I rather die with dignity!" geht es laut Saoudi um die innere Zerrissenheit eines Mittdreißigers im Angesicht der alten Verlockungen des Partylebens und der neuen Verlockungen der emotionalen Stabilität und des Komforts. "Polygamy Is Only For The Chief" wiederum soll – wie subversiv! – seinen Titel ad absurdum führen und das Statement "Polygamie ist für alle da!" setzen. Ein Jammer, dass man das weder den Lyrics noch dem Arrangement anmerkt!

Der Promotext zu "Forgiveness Is Yours" zeugt vom Abnutzungseffekt der ewigen Provokation: Die Arbeit an Album Nummer vier habe Lias Saoudi und Co. "noch mehr an die Grenzen ihres kreativen Talents, ihrer Gesundheit, ihres Verstandes und ihrer eigenen Existenz gebracht". Dem gefeuerten Gründungsmitglied Saul Adamczewski scheint die Arbeit am Album (oder doch etwas anderes?) jedenfalls nicht gut getan zu haben. Bemerkenswert widersprüchlich äußert sich Lias Saoudi zu den Gründen, warum er seinem alten Kollegen den musikalischen Laufpass gegeben habe: In einem Interview argumentiert Saoudi mit dessen Zustand im Zuge des übermäßigen Konsums diverser Substanzen, in einem anderen mit den berühmt-berüchtigten musikalischen Differenzen, nämlich dem Beharren Adamczewskis darauf, die nächste LP müsse ein äußerst avantgardistisches Synthiegeblubber-Album ohne Vocals werden. Sollte zweitgenannte Behauptung (auch) der Wahrheit entsprechen, handelte es sich beim Rausschmiss des ehemaligen Zweitsängers und Gitarristen um einen Glücksgriff. Denn die beiden konventionellsten Songs des Albums, neben "What's That You Say" die Ballade "Religion For One", sind gleichzeitig die stärksten.

Zu einem Klavier, einem Synthiechor, Drums und dem endlich einmal angenehm unprätentiös singenden Lias Saoudi gesellen sich weibliche Guest Vocals, Bläser und Streicher. Der operettenhafte Walzer über unsere narzisstische Gesellschaft erinnert an die ruhigen musikalischen Momente in Brechts Dreigroschenoper, mehr noch an die großen Balladen Nick Caves. Das geht nicht nur schnell ins Ohr, sondern berührt auch auf seine eigene Art. Beim ersten Hören wartet man noch darauf, dass gleich wieder gekeucht, gestöhnt, gekreischt oder gemäht wird. Doch die Band verzichtet glücklicherweise über die vollständige Songlänge von dreieinhalb Minuten hinweg auf das bei ihr übliche aufmerksamkeitsheischende Brimborium. Und man fragt sich: Warum tut ihr das nicht öfter?

"Forgiveness Is Yours" ist nicht nur das bisher abwechslungsreichste Album der rundlichen blassen Familie und das erste, dessen Songreihenfolge nicht willkürlich erscheint. Es ist auch das Album, auf dem das von Lias Saoudi und Co. bisher so inflationär genutzte hässliche und kalkuliert provokante Make-up am häufigsten verrinnt – und den Blick freigibt auf begabte Songwriter, die ihr Potential zu selten ausschöpfen. Meine Herren: Lasst die Schminke zukünftig häufiger weg!

Trackliste

  1. 1. The Archivist
  2. 2. John Lennon
  3. 3. Bullet Of Dignity
  4. 4. Polygamy Is Only For The Chief
  5. 5. Visions Of Pain
  6. 6. Today You Become Man
  7. 7. Religion For One
  8. 8. Feed The Horse
  9. 9. What's That You Say
  10. 10. Work
  11. 11. You Can't Force It

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