laut.de-Kritik
Die Entdeckung der Lebensfreude im Progressive Rock.
Review von Kay SchierDiese Musik ist vertrackte Leichtigkeit. Diese Musik protzt und bleibt cool dabei, weiß, was sie kann und darüber hinaus, dass Können als Selbstzweck noch keinen guten Song macht. Kann solche Musik noch Progressive Rock genannt werden?
Was meint dieser Begriff überhaupt? Heutzutage hat er jenseits seines eigenen Klischees keine Bedeutung mehr. Wir verbinden damit zu lange Songs, die irgendwie nicht so richtig knallen, mit dünn gesungenen Lyrics darauf, in denen es um irgendein voll wichtiges Konzept geht, am Besten irgendwas mit Raumschiffen oder Göttern oder welche Bilder der Höhen mannhafte Rockmusiker auch immer finden, um ihre Phalluskomplexe auf Albumlänge auswalzen und gleichzeitig einen auf intellektuell zu machen. Dabei kam und kommt meistens Musik raus, die im Gegensatz zu ehrlicher Phallusmusik wie ZZ Top oder so noch nicht einmal nach vier Bier Spaß macht.
Diese Musik aber, über die wir hier reden, entstand zu einer Zeit, als Rock an sich ein vergleichsweise neues Konzept war und man noch nicht so richtig wusste, was da alles reinpasst. Gentle Giant haben es ausprobiert: Heraus kam eine Diskographie, die auch nach heutigen Maßstäben überrascht, überrumpelt, begeistert, mit "The Power And The Glory" als ihrem Referenzwerk.
Da klingelt bei vielen zunächst nichts? Bitter, das. Vor allem, weil es so ein passender Name für eine Kapelle ist, deren kompositorische Genialität wie instrumentale Virtuosität auch fast 50 Jahre später mit zum Beeindruckendsten gehört, was westliche Rockmusik so zu bieten hat – deren Namen aber eben nicht wie in Stein in die Chroniken der Siebziger gemeißelt ist. Was unterscheidet die Truppe von Bands wie Yes, Pink Floyd, Emerson, Lake & Palmer, King Crimson?
Die Annalen berichten, wie Gentle Giant einmal als Vorgruppe mit letzteren tourten und das Crimsonsche Monumentalmusizieren vom Bühnenrand als "ein bisschen prätentiös" kommentierten. Das mutet zunächst bizarr an, nach einem glasklaren Fall von sich mal besser an den eigenen Zinken-Fassen, denn dieses Urteil stammt von einer Band, die auf "The Power And The Glory" Elemente von Zwölftonmusik über Polyrhythmik bis Proto-Disco unter Zuhilfenahme von um die 20 Instrumenten zusammenschmeißt, die sie natürlich wie immer alle selbst eingespielt haben, Ehrensache. Die Gebrüder Derek und Ray Shulman, Kern der Band, entstammen einem nicht eben begüterten, aber äußerst musischen Haushalt, in dem letzterer mit fünf Jahren begann, Trompete zu lernen, "weil sie eben da war".
"Wir hatten all diese verschiedenen Einflüsse, sei es Pop, Klassik, Jazz, Rock oder was auch immer, und kamen dann halt zusammen und machten unser Ding (…), wir haben nie versucht, irgend jemanden mit unserem Talent zu beeindrucken, außer vielleicht uns selbst", beschrieb Derek Shulman einmal den Songwritingprozess von Gentle Giant. In diesem Geiste klingen sie einfach anders als die Crimsonsche Prätentiösität, die arty-farty-Attitüde der damaligen Yes, der Akademikergestus Emerson, Lake & Palmers oder der düstere Pink Floyd-Stadionbombast.
Nehmen wir "Playing The Game": Groovy pluckert der Synthie-Bass im Verbund mit dem Xylophon nach vorn, so dass man assoziationstechnisch kurz bei Herbie Hancock ist, bevor ein Wecker rhythmisch dazwischen schrillt und alles in ein filigranes Ohrwurmriff mündet, welches uns Hörenden Halt gibt im polyrhytmischen Wahnsinn. Nach der Hälfte schlägt der Song in jazziges, sanftes Georgel um, nur um im letzten Drittel mit einem harten Break im Funk zu landen. Bis dann – zack – das Xylophon vom Anfang und das Riff wieder hineinfinden und das Ding rund machen.
Was auf dem Papier vielleicht nach Muckertum klingt, hört sich in der Praxis nach der kindlichen Verspieltheit von fünf Freunden an, die all diese Elemente verwenden, weil sie eben da sind. Gentle Giant probieren aus, wie hoch, aber auch breit, schräg, spiralenförmig man den Klötzchenturm stapeln kann.
Man kann zum Beispiel auch einen Song mit einem harmonisch verschwurbelten Zwölftonmusikabschnitt an Cello, Geige, Saxophon und Kontrabass beginnen, obwohl man auf dem Papier zunächst niemandem dazu raten würde, aber Gentle Giant tun es eben auf "So Sincere", weil die Zwölftonmusik nunmal da ist, und sie das alles in einen schleppenden Rockbeat hinüberretten können, als wäre das nix. Was dann im Song so folgt, lässt alle aufhorchen, die sich in den letzten Jahren mit aktuellem Math Rock britischer Schule beschäftigt haben, denn hier ist alles schon da, was das Genre ausmacht. Anno 1974 war das alles aber noch viel bahnbrechender als heutzutage, das Weglassen von Gitarrensoli, stattdessen der starke Fokus auf die übereinander herfallenden Rhythmen der einzelnen Instrumente, die hyperaktive klangliche Reizüberflutung bei gleichzeitigem Beibehalten eines Grooves, der die ganze Geschichte erdet (einem gewissen britischen Oberstreber und bekennenden Fan namens Steven Wilson ist es auch mit zu verdanken, dass die Band nicht in Vergessenheit geraten ist).
Gentle Giant denken nicht nur einen Schritt weiter, sondern gleich fünf, brauchen dafür aber keine Viertelstunde pro Song, vier Minuten "The Face" reichen völlig aus. Bevor es solche Musik überhaupt gab, hat die Band hier einen mitreißenden Discohouse-Brecher aufs Parkett gelegt, der mit der clever arrangierten, treibenden Streichersektion auf Klassikschnösel anerkennend das Chardonnayglas heben lässt. King Crimson etwa sollten erst zu Beginn der Achtziger verstehen, dass komplexe Musik nichts von ihrer intellektuellen Strahlkraft verliert, wenn sie dabei auch tanzbar ist.
Und wo wir hier, inspiriert im Geiste Gentle Giants, Sachen zusammenwerfen, die nicht unbedingt etwas miteinander zu tun haben: "No God's A Man" ist die Art von Song, die Brian Wilson vielleicht im weiteren Verlauf seiner Karriere geschrieben hätte, wenn er ein bisschen weniger psychotrope Substanzen und ein bisschen mehr klassische Komposition studiert hätte. Die beiden Shulmans exerzieren hier zusammen mit Kerry Minnear, Gary Green und John Weathers vor, dass mehrstimmige Gesangsharmonien und Elemente der Barockmusik hervorragend zusammengehen, wenn man denn will: Pet Sounds auf Steroiden.
So könnte man noch eine Weile weitermachen, von den tausend kleinen Raffinessen und unerwarteten kompositorischen Haken schwärmen, die das verspielte Kleinod "The Power And The Glory" in seiner musikalischen Substanz ausmachen. Wer das nötige musiktheoretische Know-How mitbringt, wird darüber weitaus besser fachsimpeln können als wir vom Fußvolk, die das Album nicht in erster Linie lieben, weil es so komplex ist, sondern weil es dabei so einfach klingt. Einfach nicht im Sinne von simpel, sondern von zwingend.
So genau ausgetüftelt die Songs auch sind, so mitreißend, groovy, mitunter schweißtreibend tanzbar sind sie auch, und an dieser Stelle möchte ich mich zu einer heißen These versteigen: Gentle Giant haben in den Progressive Rock ein Konzept eingeführt, das man im Volksmund als "Lebensfreude" bezeichnet. Vielleicht ist ihnen deswegen der Eintritt in die höchste Halle des Ruhmes auch immer verwehrt geblieben, denn dort oben schaut man traditionell auf die existenzielle Schwermut und die großen, menschlichen Themen (anders gesprochen, auf Pink Floyd, und erst weit dahinter kommen alle anderen). Das Spiel, das Gentle Giant spielen, ist eben ein solches und kein Shakespearsches Drama. "The Power And The Glory" hat zwar auch ein paar Lyrics über Macht und ihren Missbrauch vorzuweisen, die sind aber, Hand aufs Herz, völlig wumpe. "The Power And The Glory" ist wie ein Abenteuerspielplatz und hat kein anderes Thema als die Musik als solche und was man damit machen kann, und dieses Thema ist zeitlos, zeitloser als alle 20-Minuten-Rockopersuiten jemals sein werden. Gentle Giant sind progressiv, aber nicht prätentiös, spielen Rock ganz ohne Rockismen, und wenn es jemals ein Album gab, auf den der Begriff „Progressive Rock“ gepasst hat, dann auf "The Power And The Glory".
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
4 Kommentare
Ich verneige mich vor dieser Rezi.
GG war mir als Prog Fan immer zu jazzig, nicht richtig hart gespielt, aber dafür sehr leichtfüßig. Auch schaffen sie es die gleiche Kakophonie, die King Crimson nur verzerrt an den Mann bringen können innerhalb ihres gewöhnlcihen Soundkosmos zu Wege zu bringen. Nichts für mich, aber ich erkenne die Leistung der Band an.
Die anderen King Crimson (nicht alles), Van der Graaf, Yes, Jethro Tull, die alten Genesis bis Tail gefallen mir einfach besser.
GG war eine der genialsten Bands aller Zeiten! Bin nur komischerweise mit diesem Album nie so ganz warm geworden, für mich wären "In a glass house" oder "Octopus" eher die Meilensteine. Hier sind sie sicherlich auf dem Höhepunkt der Komplexität angelangt, das ist wirklich Math-Rock anno 74.
Freut mich sehr dass diese SEHR eigene und EXTREM talentierte Band hier gewürdigt wird!
Ein treffliche Rezension. Schön, dass dieses Album es in die Meilenstein-Liste geschafft hat.