laut.de-Kritik
Liebe in all ihren Formen und Farben.
Review von Magnus FranzVor knapp drei Jahren sorgten Half Alive mit ihrem fesselnden und detailverliebten Debütalbum "Now, Not Yet" für Aufsehen in der Welt des Indie-Pops. Nun steht mit "Give Me Your Shoulders, Pt. 1" der erste Part eines mehrteiligen Nachfolgers in den Startlöchern. Im Rahmen des neuen Projekts verschreiben sich Josh, J Tyler und Brett zugleich auch einer neuen thematischen Ausrichtung, die im Kosmos der Band bisher noch keinerlei Rolle spielte. Während "Now, Not Yet" vor allem von einem religiösen Unterton geprägt war, ergründet das Trio auf "Give Me Your Shoulders, Pt. 1" erstmals in seiner noch jungen Karriere die facettenreiche Welt der Liebe.
Zwar sorgte der katastrophale Album-Rollout durch die Kombination aus zu vielen vorab veröffentlichten Tracks, dem Aufsplitten des Albums und einer viel zu langen Wartezeit seit den ersten Teasern im März letzten Jahres immer wieder für Verwirrung und Kopfschütteln. Glücklicherweise ist auf die Gruppe aber immer dann Verlass, wenn es um das eigentlich Wichtige geht: die Musik. Dabei überrascht es mit Gedanken an den stetigen Neuerfindungsdrang der Band wenig, dass "Give Me Your Shoulders, Pt. 1" keine unveränderte musikalische Fortsetzung der "Now, Not Yet"-Ära ist. Einige prägende Aspekte dieser Zeit wie Risikobereitschaft und Experimentierfreudigkeit spielen eine deutlich zurückhaltendere Rolle als noch zuvor. Vielmehr rücken in diesem Anlauf die Eingängigkeit und der Flow in den Vordergrund.
So schreitet besonders "Everything Machine" als stilistischer Mix aus Twenty One Pilots, Oliver Tree und AJR mit Stimmodulationen, simplen Drum-Pattern und einer dreckigen Mischung aus Akustik- und E-Gitarren kompromisslos und zielstrebig voran, ohne dabei sonderlich aufzufallen oder etwas falsch zu machen. Auch die markantesten Merkmale von "What's Wrong" und "Summerland" sind im ersten Moment ihr angenehmer Groove und das vermeidliche Mainstream-Appeal. Dennoch versteckt sich hinter fast allen Songs des Albums einiges.
Während "Give Me Your Shoulders, Pt. 1" aufgrund der Neuorientierung durchaus Gefahr läuft, den einstigen originellen Zauber und Mythos des Erstlingswerks zu verspielen, bewahrheitet sich diese Befürchtung außer beim enttäuschenden und ungewöhnlich schlecht produzierten Opener "Make Of It" nicht. Ausschlaggebend dafür ist, dass der Hang zur Annäherung an den Geschmack der breiten Masse zwar deutlich zu erkennen ist, dieser jedoch den unwiderstehlichen kompositorischen Charakter der Songs, die Authentizität der Band und die Liebe zur Musik nicht verdrängt, sondern vielmehr gleichbedeutend und respektvoll ergänzt.
Besonders deutlich wird dieses Zusammenspiel in "Back Around", das sich schnell als eines der Highlights der Platte entpuppt. Getragen von Joshs imperfekten, rohen und unbearbeiteten Vocals, sind es auf der einen Seite gerade die ruhigen Passagen, die nur so vor Emotionen strotzen: "I've been on my own, changing with the seasons / Dying with the leaves, I'm coming back around / Little did I know, start to see the meaning / Find what I believe is coming back now." Auf der anderen Seite schließen die explosiven Momente wiederum den Kreis und sorgen durch eine Wall of Sound aus Funk-Gitarren, berauschenden Melodien, Screamo-Passagen und unzähligen vereinzelten Soundschnipseln für eine tanzfreundliche und atemberaubende Untermalung der lyrischen Gefühlsachterbahn.
Auf "Move Me", dem ruhigsten Stück des Albums, verpasst das Trio seinen Ideen durch das weniger gebräuchliche 7/8-Timing wiederum eine interessante, erfrischende und komplexe Note. Dennoch klimpern sowohl das Piano als auch der Drum-Groove im Einklang mit den Vocals wunderbar melodisch voran, bis alle Bestandteile im entschleunigten und atmosphärischen Chorus münden. Außerdem sorgt das bombastische Rock-Finale für eine weitere angenehme Überraschung in einem ansonsten schüchternen und bittersüßen Song.
Während bei genauem Hören somit nach wie vor viele liebevolle und subtile Details zu finden sind, zeigt sich auch die lyrische Ebene gewohnt reflektiert und faszinierend, was gemessen an der wohl meistbesungendsten Thematik der Musikgeschichte durchaus eine beachtliche Leitung darstellt. "Give Me Your Shoulders, Pt. 1" vermittelt auf unterschiedlichsten emotionalen Ebenen Intimität und Verletzlichkeit im selben Atemzug wie Stärke und Zuversicht. Es bezieht sich auf komplexe, tiefgreifende Liebe zwischen Menschen ("Summerland") genauso wie auf spirituelle Liebe ("Move Me") oder Liebe als Chance der inneren Heilung ("Make Of It").
Auch das neuste Teil-Album der Kalifornier steht wie schon "Now, Not Yet" zuvor, als mitreißender und leicht verdaulicher Output für sich alleine und hält trotzdem viele philosophische Gedanken unter der Oberfläche bereit, die man bei Bedarf ergründen und verstehen lernen kann, aber dennoch nicht muss, um das Projekt zu genießen.
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