laut.de-Kritik
Soundtrack zur persönlichen Coming-Of-Age-Story.
Review von Annika Feldmann"Diese EP steht für das Gefühl, verloren zu sein. Es ist die Art von Verlorenheit, die dich fragen lässt, wer du bist und wo du hingehörst. So verloren, dass dich vielleicht jemand wiederfinden muss, weil du dich selbst nicht finden kannst. So fühlte es sich an, nach Liverpool und dann nach London zu ziehen, zwischen den Städten hin und her zu pendeln und sich nie niederzulassen." Holly Humberstone setzt sich in ihrer zweiten EP mit persönlichen Erfahrungen von freundschaftlichen und romantischen Beziehungen, Verletzlichkeit, Trauer, Wut und Nicht-Wissen-Wohin auseinander.
Der klavierbasierte Opener "Haunted House" startet mit bewegender Akkordfolge und den Worten: "They say this house is haunted / But all these ghosts I've grown with". Eine Liebeserklärung an das Haus, in dem sie aufwuchs, und das sie aufgrund der Baufälligkeit verlassen musste. Ein altes Dienstbotenhaus, das viele ihrer Freund*innen zu gruselig fanden, um sie zu besuchen. Für Holly jedoch ist es ein Teil ihrer Identität, und auch alles vermeintlich Negative gehört dazu. Auf raffinierte Weise schafft sie es nicht nur in diesem Song trotz der Beschreibung von maximal persönlichen Geschichten, eine Übertragung der Emotionen herzustellen, als wären es die eigenen Erfahrungen.
Jetzt ließe sich vermuten, dass die folgenden fünf Songs, die ähnlich drückende Themen rund um das Erwachsenwerden behandeln, musikalisch ebenso als Ballade und im Downtempo daherkommen. Pustekuchen. Zwar klagt Humberstone in "The Walls Are Way Too Thin" über Intimität, die ungemütliche Wohnsituation, in der sie sich einsam und verloren fühlt und den Wunsch, einfach im Dunkeln zu verschwinden statt zu kämpfen. Doch unterlegt sie diese Emotionen mit catchy Gitarren und Drums sowie groovigen Bass- und Synthielines. "Wie bei vielen der Songs auf dieser EP steckt eine ziemlich deprimierende Bedeutung dahinter, aber es war wichtig, dass es nicht deprimierend klingt". Success.
Bei "Please Don't Leave Just Yet" hat 1975-Member Matty Healy seine exquisiten Fingerchen im Spiel. Dies ist (nicht nur aufgrund seiner Vocals) nicht zu überhören - auch die E-Drums und der Vocoder-Einsatz erinnern an die Band, dessen Musik Hollys Jugend-Soundtrack war.
Von Bruce Springsteens treibender "I'm On Fire"-Gitarre inspiriert, entstand "Thursday", ein Mix aus eigenen Erfahrungen und denen von Hollys bester Freundin nach einer Trennung. Es geht um das Gefühl, die einzige Person zu sein, der es richtig elend geht, und dass die andere Person scheinbar gut mit Trennung zurecht kommt und nicht leidet. "Doesn't it mess you up a bit? Doesn't it hurt?" fragt Humberstone bevor sie zugibt, dass sie sich wünschen würde, dass der besungene Ex auch leidet: "I was kinda hoping you were kinda broken, too".
Den Upbeat-Hit "Scarlett" schrieb Holly für ihre beste Freundin, nachdem diese verlassen wurde. Nach der "Thursday"-Phase geht es hier um die darauffolgende Zeit, in der es Scarlett langsam besser geht, und sie realisiert, dass sie ohne ihren Ex besser dran ist. Mit tanzbarer Mittelfinger-Hoch-Attitüde zeigt Holly der besten Freundin auf, dass sie unabhängig von ihm ein toller Mensch ist.
Der Closer "Friendly Fire" ist von der anderen Seite einer Trennung her beschrieben. Während der Pandemie merkte Holly, dass sie den Großteil ihrer emotionalen Energie für sich selbst und ihre Musik benötigte. Durch das Schreiben des Songs sei ihr bewusst geworden, was sie zu tun habe. Obwohl sie die andere Person wirklich gern mochte und ihr keinen Schmerz zufügen wollte, beendete sie die Beziehung. Sie drückt gleichzeitig Wohlwollen und Wertschätzung aus: "If I hurt you it's just friendly fire". Es sei ein eigenes, persönliches Problem: "Guess I'm broken by design".
Humberstone pendelt sich in der perfekten Mitte zwischen persönlichen Details und Relatability ein. Mit zarter Stimme verpackt sie, was sie zu sagen hat mal in emotionale und mal in treibende Upbeat-Balladen. Schwere und Melancholie klingen in jedem Fall auf schmerzhaft schöne Weise mit, sodass die EP den persönlichen Soundtrack zu jeder individuellen Coming-Of-Age-Story darstellen könnte.
1 Kommentar
In die Songs 1, 2 und 5 reingehört. Eher 2/5
Die ganze (komplett Kritikfreie) Rezi über betonen, wie krass ihre persönlichen Erfahrungen in die Lyrics fließen und dann im letzten Absatz behaupten, dass ich das auch für meine Coming Off Age Story benutzen könnte.